Triggerwarnungen - sinnvoll?

Triggerwarnungen. Ein Thema, bei dem sich die Meinungen in zwei Lager teilen: „Ja, bitte“ und „So ein Quatsch“. Ich persönlich bin tatsächlich nach anfänglichen Zweifeln ein großer Fan von Triggerwarnungen oder Content Notes. Beides wird vor Artikel, Posts oder Bilder gesetzt, die potentiell psychische Symptome und als negativ empfundene Emotionen auslösen können. Triggerwarnungen („TW“ – eine Warnung vor dem Inhalt) sind dabei stärker als Content Notes („CN“ – ein Hinweis auf den Inhalt). Aber wie sinnvoll ist das überhaupt?

Ein jeder Mensch hat Trigger, egal, ob psychisch krank oder nicht. Wir alle haben im Laufe unseres Lebens Dinge erfahren, die wir lieber vergessen möchten, die sich aber fest in unser Gehirn verankern mussten. Wenn uns jetzt etwas daran erinnert – ein Geruch, ein Geräusch, ein Wort, ein Bild – dann spüren wir den Schmerz von damals. Das ist nicht schön.

Bei Personen mit psychischer Erkrankung ist das alles noch einen Ticken stärker. Wenn wir getriggert werden, fallen wir in Symptome – Dissoziationen, depressive Gedankenschleifen, verstärkte Angstgefühle oder Zwangsverhalten. Das ist nicht nur unschön, sondern kann auch gefährlich werden. Deshalb lernen wir in der Therapie zwei Dinge: Trigger selbst abmildern (zum Beispiel durch Skills) und auf Trigger rechtzeitig reagieren, sie also rechtzeitig erkennen, um überhaupt gegensteuern zu können.

Trigger sind dabei hochgradig individuell, eben je nachdem, welche Ursachen und Auslöser es für die Erkrankung gab. Hinter jeder psychischen Erkrankung steckt ein starkes negatives Erleben, das mit dem Gefühl von Kontrollverlust und Ohnmacht einherging. Wenn jetzt etwas daran erinnert, können wir in unserem Genesungsprozess sehr weit nach hinten geworfen werden.

Wenn Trigger aber so unterschiedlich und subjektiv sind, können dann Triggerwarnungen überhaupt sinnvoll sein? Denn dann müsste ich ja vor allem warnen! Klar, wenn ich schreibe: „Ich bin heute bei schönstem Sonnenschein durch den Wald gelaufen“, dann kann das jemanden triggern, der*die zum Beispiel im Wald überfallen wurde. Aber es ist ein Unterschied, ob ich potentiell wenige Personen triggere, oder „krasse“ Themen anspreche, bei denen ich mir sicher sein kann, dass sie viele Betroffene zurück ins Trauma katapultieren. Klassische Beispiele: Körperflüssigkeiten, Gewalt, Missbrauch, Essen, Geburt, Enge. Es gibt Bereiche, bei denen ich mir sicher sein kann, dass sie bei anderen zu starken negativen Gefühlen führen können. Eine einfache Frage, die man sich da stellen könnte: „Würde dieses Motiv für einen Horrorfilm taugen?“ Spinnen, Schlangen, dunkle Räume, fremde Menschen, wir kennen das doch alle. Das macht Angst.

Tatsächlich ist ein Leben mit einer psychischen Erkrankung vergleichbar mit einem Horrorfilm. Wer jetzt denkt: „Himmel, jetzt überdramatisiert sie aber!“, lest bitte weiter. Man weiß nie, wann der nächste Trigger aus seinem Versteck springt und laut „Buh!“ ruft. Das ist eine Existenz in dauernder Habachtstellung mit unvorhersehbarer Entladung der Spannung. Das ist, als würde dir jederzeit jemand einen Stromschlag ins Hirn verpassen können und du weißt nicht, wann es das nächste Mal passiert. Natürlich tust du alles, um das zu verhindern oder wenigstens vorhersagen zu können. Warum kann man sich selbst nicht kitzeln? Weil das Gehirn die eigenen Bewegungen bereits vorplant und den Reiz ausblenden kann. Danke, Hirn! Auf negative, unangenehme Reize, die vorangekündigt werden, kann man sich einstellen. Das wäre so, als würde im Horrorfilm eine Stimme aus dem Off sagen: „Da steht eine Person hinter dem Vorhang und kommt gleich herausgesprungen.“ Nervenkitzel gleich Null? Gut so.

Jetzt ist es natürlich so, dass ich nicht jederzeit vor allem warnen kann. Gerade im echten Leben ist das fast nicht möglich. Wenn ich ein Problem mit roten Körperflüssigkeiten habe und jemand bekommt neben mir Nasenbluten, dann konnte das keiner von uns vorhersagen und dann bin ich auch nicht böse. Wenn ich aber weiß, dass jemand empfindlich auf ein bestimmtes Thema reagiert, und ich das bewusst anspreche, kann ich es vorher ankündigen. Oder es gleich ganz sein lassen. Ich kenne meistens die Menschen, mit denen ich rede. Ich weiß zumindest bei Freunden und Verwandten, welche Themen für sie unangenehm sein könnten und spare sie bewusst aus. Wenn die Person von sich aus darüber sprechen möchte, bin ich dabei. Aber ich dränge niemandem etwas auf, bei dem ich weiß, dass es der*dem Anderen unangenehm sein könnte.

Meine Ärzt*innen sind da vorbildlich, allerdings eben auch alle eingeweiht in meine Erkrankung. Sie kündigen jede ihrer Handlungen an und fragen damit indirekt, ob das gerade für mich in Ordnung ist. Damit kann ich mich auf die Berührungen einstellen, ich weiß, was passiert, ich kann mich aktiv um mich selbst kümmern und mich beruhigen mit „Das kenne ich schon“ und „Das tut nicht weh“. Dabei ist mein Körper auch viel entspannter, denn ich weiß ja, was kommt. Ein entspannter Körper bedeutet auch eine entspannte Psyche und damit weniger Verspannungen, gleich weniger Schmerzen und weniger Erschöpfung danach. Durch das Ankündigen ihrer Handlungen sprechen meine Ärzt*innen mehr oder weniger eine Triggerwarnung aus.

Durch Triggerwarnungen kann ich einschätzen, was kommt. Vor jeder Achterbahn steht ein Hinweisschild mit den Worten: „Bei der Fahrt mit dieser Bahn werden Sie mit dem Vielfachen Ihres eigenen Körpergewichts belastet“, gefolgt von: „Nicht fahren, wenn Sie dieses, jenes oder sonstiges haben.“ Ich sehe oft Menschen vor diesen Schildern stehen und grübeln, ob sie das jetzt echt machen wollen oder nicht. Manche entscheiden sich gegen eine Fahrt. So ähnlich ist es mit Triggerwarnungen. Wenn ich oberhalb eines Posts, Artikels oder Bildes eine entdecke, kann ich in mich gehen und mich bewusst fragen, ob ich für den Rest stabil genug bin. Das eine ums andere Mal hätte ich wohl eher auf die Triggerwarnung hören sollen, das wurde mir im Nachhinein klar. Heute halte ich mich daran: Bin ich stabil genug für dieses Thema?

„Dann müssten die Staffeln von ‚Game of Thrones‘ ja gespickt sein mit Triggerwarnungen! Und bei jedem Buch müsste in jedem Kapitel schon am Anfang stehen, was passiert! Dann ist doch die ganze Spannung weg!“ Puh, das sind viele Aussagen auf einmal.

Erstens: Wenn ich bestimmte Serien schaue oder bestimmte Bücher lese, dann rechne ich mit bestimmten Dingen. Nach den ersten zehn Minuten von „Game of Thrones“ weiß ich, dass Köpfe rollen werden und ich nicht aus Versehen die neueste Folge von „Benjamin Blümchen“ schaue. Genauso verhält es sich mit bestimmten Genres, sowohl bei Büchern, als auch bei Filmen und Serien. Schon mal einen Klappentext oder eine Filmbeschreibung gelesen? Das ist faktisch auch eine Triggerwarnung. Wenn da steht „Sie wurde von einem Mann verfolgt“, dann lese ich das Buch nur, wenn ich stabil genug dafür bin. Niemand leiht sich eine DVD aus (Ja, ich stamme aus einer anderen Zeit, in der es noch Videotheken gab) über süße Hundewelpen und landet in einem Splatterfilm.

Zweitens: Wenn das doch passiert, sollte der/die Autor*in sich schämen. Häufig werden Gewaltszenen nämlich wirklich absolut überflüssigerweise eingesetzt, um eine saulangweilige Handlung irgendwie zu pushen. Das ist beschämend für alle guten Bücher und Filme da draußen. Und wenn es in dem ganzen Buch um eine harmonische Liebesbeziehung geht, in der plötzlich absolut unangekündigt etwas Schlimmes passiert, dann ja, kann gerne eine Triggerwarnung erfolgen. Es muss ja nicht konkret über dem Kapitel stehen („Vorsicht, auf den nachfolgenden drei Seiten passiert dieses oder jenes!“), ein allgemeiner Hinweis („Gewaltszenen!“) auf dem Buchrücken reicht. Das nimmt keine Spannung raus, ist aber eine wichtige Information für viele traumatisierte Menschen.

„Wenn da aber nur ‚TW Missbrauch‘ steht, weiß ich ja gar nicht, was darauf folgt!“ Naja, den genauen Inhalt des Posts, Artikels oder Bildes kenne ich damit nicht und vielleicht wäre er auch gar nicht so schlimm. Aber ich weiß schon mal, dass es grob um Missbrauch geht und kann für mich entscheiden, ob ich gerade sowieso schon eine Krise durchmache und mich damit noch zusätzlich belasten möchte oder ob ich das nicht will.

Triggerwarnungen sind vor allem sinnvoll bei eher negativ formulierten Inhalten, konkreten Beschreibungen von Situationen oder expliziten Bildern. Es hilft ungemein, sich den eigenen Post oder Artikel noch mal durch den Kopf gehen zu lassen und nachzuspüren, was der mit einem selbst macht. Wühlt er auf? Dann sollte eine Triggerwarnung davorstehen. Könnte eine spezifische psychische Erkrankung getriggert werden (zum Beispiel Zwangs-, Essstörungen oder Suchterkrankungen)? Dann sollte eine Triggerwarnung davorstehen. Wie gesagt, man kann sie nicht alle retten, aber man kann gegebenenfalls darauf vorbereiten, was kommt. Der Rest liegt in der Verantwortung der lesenden Person.

Vom Aufgeben und Loslassen

Ich muss euch etwas sagen. Oder nein, ich muss gar nichts, aber ich möchte. Weil ich auf dem Blog hier immer ehrlich war und da schon länger ein Fehler auf meiner Seite ist. Eine Kleinigkeit. Oder, eine Kleinigkeit für den Rest der Menschheit, eine Großigkeit für mich. Ich wollte mir selbst erst einmal darüber klar werden, was ich überhaupt möchte. Was überhaupt gerade Thema ist. Wer ich bin und wer ich sein möchte.

Ich habe mein Psychologiestudium geschmissen. So, jetzt ist es raus. Ich plane das seit drei Jahren, schwanke wie eine Betrunkene auf einem Schiff, das durch die raue See pflügt. „Ich will das nicht“, sage ich seit dem fünften Semester. „Aber du kannst nicht aufgeben, du bist so gut!“, sage ich seit dem fünften Semester.

Ja, ich war gut darin. Ich hatte einen Notenschnitt von 1,2. Zeitweise war es 1,1, dann kam die Erkrankung zurück. Das Drama, der Zusammenbruch, das negative Feuerwerk, das mir direkt ins Gesicht flog. Das Studium hatte daran seine Teilschuld. Ich war zwar vorbelastet, ich war aber vor allem unglücklich.

„Wie kann man damit unglücklich sein?“, habe ich mich gefragt. Ich hatte alles! Einen der begehrten Plätze bei NC-Fächern, jemandem weggenommen, der dessen wirklich würdig ist. Ich sah meine Kommilitoninnen fröhlich von einer Prüfung in die nächste hüpfen, klar, alle gestresst, aber so überzeugt von dem, was sie tun.

„Ich will Menschen helfen“, war meine Devise, mein Antrieb. Bis ich merkte, dass ich das nur wollte, weil es meinem alten Muster entsprach. Meinem kranken Anteil, der das Helfersyndrom nicht nur hatte, sondern Professor in „Klar erledige ich das für dich“-ologie war. Ich war es gewöhnt, Probleme für andere zu lösen, ich fühlte mich fast schon zu gebraucht, hatte einen Helferfetisch, der emotionale Mülleimer meines Umfelds. Bis ich merkte, dass ich dabei jemanden ganz vergessen hatte: Mich.

Ich mag Menschen, so ist es nicht. Aber ich habe genug eigene Probleme, um nicht die Verantwortung für andere zu übernehmen. Das kann ich nicht und das möchte ich nicht. Ich wäre nie eine gute Therapeutin gewesen, weil die auf sich selbst achten würde. Ich kann keine Distanz herstellen. Ich wäre vermutlich noch während der PiA-Ausbildung verbrannt und hätte es nicht bemerkt.

„Das interessiert mich nicht“, klagte ich ein ums andere Mal und fühlte mich wie eine ganz normale Studentin mit Selbstzweifeln. Wieder fühlte ich mich undankbar und faul. Natürlich ist ein Studium anstrengend! Was hast du denn erwartet, ein Gänseblümchenfeld mit Doughnut-Stand? Aber je länger ich studierte, umso mehr bemerkte ich, dass ich wie ein geschecktes Pferd unter Kühen war. Die anderen mussten sich zwar auch anstrengen und hatten Problemfächer, die sie nicht ganz so faszinierten, aber im Großen und Ganzen passte es für sie. Für mich passte es nie. Ich lief sechs Jahre lang in Schuhen, die mir drei Nummern zu klein waren.

Am Ende, als mir klar war, dass ich das nicht möchte, dass ich keine Psychologin werden will („Aber was ist mit Organisationspsychologie, du könntest doch in die Personalauswahl oder ins Marketing, in der Psychologie gibt es soooooo viele Felder, eins muss dich doch interessieren!“ – „Nein, muss es nicht.“), stand die letzte Hürde im Raum: Ich wollte keine Versagerin sein.

Aufgeben ist ein schwieriges Thema. In unserer Gesellschaft bedeutet es, dass man nicht die Fähigkeiten hat, etwas durchzuziehen. Wir schauen herab zu Menschen, die aufgeben, die fünf Meter vor dem Hügel sagen: „Eigentlich hasse ich Bergsteigen“ und dann von da aus die Aussicht genießen. Dass es viel gesünder und mutiger ist zu sagen: „Das ist nichts für mich“, das können wir oft nicht sehen. Wer sich scheiden lässt, hat nur nicht genug um die Beziehung gekämpft. Wer sich von Menschen lossagt, die einem nicht guttun, ist viel zu empfindlich. Wer eine Party frühzeitig verlässt, ist ein Spaßverderber. Immer mehr. Immer höher. Und ja niemals etwas vorzeitig beenden. Ist das nicht krank?

Am Ende waren es zwei Dinge, die dazu führten, dass mein Studium ein jähes, vorangekündigtes Ende fand: Zum einen interessierte mich einfach der Fachbereich nicht mehr so sehr, dass ich damit meine Zeit verbringen wollte. Oder eher, so viel Zeit. Ja, Psychologie ist unendlich faszinierend und spannend. Aber deshalb muss man es nicht studiert haben. Zum anderen hatte ich einfach keine Kapazitäten mehr dafür. So ein Psychologiestudium frisst nicht nur Zeit, sondern Unmengen an Energie und die muss man mit einer komplexen PTBS erst einmal haben (Fun Fact: Ich habe sie nicht).

Und da steht wieder der Gedanke im Raum: „Ich bin zu schwach für ein läppisches Studium. Ich bin eine Versagerin!“ Aber dann denke ich mir, dass vermutlich der Großteil der Menschheit kein Psychologiestudium schaffen würde. Ich bin nicht zu dumm dafür, ich bin nicht zu faul dafür, ich bin einfach zu krank dafür. Das hat lange Zeit richtig wehgetan. Mal wieder verbaut mir meine Erkrankung meine Zukunft. Aber warte: Die habe ich ja eh nicht in der Psychologie gesehen.

Studieren ist nichts für mich, ganz einfach. Mir ist das zu viel Theorie und zu wenig Praxis (zumindest bei diesem Studienfach an dieser Uni). Ich bin jemand, der am Abend gerne sieht, was ich den Tag über getan habe und damit meine ich nicht den Stapel sauber bekritzelter Karteikarten. Damit meine ich Handarbeit.

Aufgeben ist ein Wort, das ich aufgrund der ihm zugeschriebenen Attribute nicht mag. Es hat etwas von nicht schaffen, von nicht genug wollen, von nicht genug anstrengen. Ich habe mich angestrengt, ich habe mich länger und mehr angestrengt, als das sinnvoll gewesen wäre. Ich wollte das Studium nicht aufgeben, aber nicht wegen des Studiums, sondern wegen der Angst. Der Angst vor der ungewissen Zukunft, vor den schlechten Gefühlen von Versagen und Scham.

Jetzt ist die Exmatrikulation raus. Ich bin raus. Raus aus einem System, mit dem ich sowieso nichts anfangen kann, das mich zum Ende hin immer mehr mit seiner elitären Grundhaltung angekotzt hat. Ich bin frei, nur leider so frei, wie ich eigentlich nicht sein wollte, was ich eigentlich vermeiden wollte, denn jetzt kommt unweigerlich die Frage auf: Was jetzt?

Und ich kämpfe darum, die Frage nicht endgültig zu beantworten, weil das Schicksal über feste Pläne lacht und sowieso alles anders kommt, als ich mir das in meinem beschränkten Köpfchen ausmalen kann. Ich habe eine ungefähre Richtung. Ich habe Zeit, endlich in mich zu spüren und mich zu fragen, was ich möchte. Mich auszuprobieren in dem, was mir gefällt, worin ich vielleicht gut bin, Talente zu entdecken, die ich bei mir selbst niemals vermutet hätte und endlich den Menschen kennenzulernen, der ich bin. Andere mit ihren Meinungen nicht vor mich zu stellen, sondern frei und stark zu sagen: „Das war ich nicht. Aber schau her, was ich bin, das ist doch wunderschön.“

Ich habe nicht aufgegeben. Ich habe losgelassen. Ich habe etwas losgelassen, das mir nicht gepasst hat, bei dem ich mich verstellen musste und mit dem ich mich gequält habe. Hinter mir liegt eine schwere Zeit, aber vor mir eine makellose Zukunft. Ich habe jetzt die Freiheit, mich zu finden, neu zu entdecken und ehrlich, ich liebe es – weil ich mir jetzt in diesem ungewissen Zeitpunkt näher bin, als ich das jemals war. Loslassen ist eine Liebeserklärung an sich selbst, die höchste Kunst der Selbstfürsorge, der Endgegner im Kampf gegen die psychische Erkrankung. Zu sagen: „Das tut mir nicht gut“ und den Mut zu finden, sich davon zu lösen, das ist Magie pur. Das ist krasser als Chuck Norris.

Führerschein mit Dissoziation

Ich habe lange überlegt. Ich habe tatsächlich acht Jahre überlegt, ob ich wirklich einen Führerschein machen will. In der Klinik hatte ich ein Aufklärungsgespräch über Autofahren und Dissoziationen. Am Ende war ich mir fast sicher, dass ich niemals ein Auto selbstständig bewegen werde. Und jetzt ist er da: Führerschein Klasse B. Theorie und Praxis beim ersten Anlauf bestanden, der Fahrlehrer hat noch gesagt, er hatte schon lange keine so gute Prüfungsfahrt mehr. Aber war das klug?

Die Anmeldung zur Fahrschule sah folgendermaßen aus: „Hallo, ich bin die Julia, ich will einen Führerschein Klasse B machen, aber ich habe eine Posttraumatische Belastungsstörung.“ Der Fahrlehrer so: „Alles klar, kriegen wir hin.“

Die Theorie machte ich in einem Zustand, den man wohl „abhängig“ nennen kann. Kurz gesagt, mein Mann hat mich begleitet – zu jeder einzelnen Theoriestunde. Hat ihm aber auch ganz gutgetan, am Ende machte er gleich den Erste Hilfe-Kurs mit und jetzt hat er einen Motorradführerschein, den er eh haben wollte (O-Ton Mann: „Jetzt hab ich eh alle Basis-Theoriestunden und den Erste Hilfe-Kurs, also kann ich auch endlich den Motorradführerschein machen“).

Meine erste Fahrstunde war super. Gut, ich bin auf dem Land aufgewachsen, ich gebe es zu, die Feldwege in meiner Heimat habe ich alle schon ausprobiert. Aber das hier war was anderes. Das hier war ernst. Wobei, auf den Feldwegen konnte kein Fahrlehrer für mich bremsen, in der Fahrschule ist irgendwie alles entspannter. Ausprobieren. So hat es angefangen. Am Ende der ersten Fahrstunde fuhr ich 100 auf der Landstraße und probierte dieses „Rechts vor Links“-Zeugs im Nachbarort aus. Der Fahrlehrer sagte, ich würde den Führerschein schnell haben, ich fahre richtig gut Auto.

Die Theoriestunden fanden zweimal die Woche statt, nach ein paar durfte ich einmal die Woche Auto fahren. Ich büffelte fleißig, stand kurz vor der Prüfung. Dann der Anruf: „Frau F., Sie dürfen nächste Woche in unsere Traumaklinik kommen.“ Ehrlich, ich freute mich, dass ich nach neun Monaten Wartezeit endlich einen Platz ergattern konnte, aber warum denn ausgerechnet jetzt?

Bei der nächsten Theoriestunde beichtete ich dem Fahrlehrer: „Sorry, Prüfung wird aufgeschoben, ich geh in die Klinik.“ Antwort Fahrlehrer: „Hilft ja nix, viel Erfolg da und komm gut wieder zurück!“ Drei Monate Pause. Eine Mitpatientin machte während ihrem Aufenthalt in der Klinik ihren Führerschein. Zweimal die Woche stand das Fahrschulauto vor der Tür, ich wollte jedes Mal einsteigen, „bitte lassen Sie mich auch mal, mir fehlt das!“

Autofahren bedeutet Stress, vor allem als Fahranfänger. Wo kommen plötzlich diese ganzen anderen Leute her, warum ist da schon wieder ein Zebrastreifen, passe ich an dem vorbei, die Straße ist so eng und verdammt, hier war ja Rechts vor Links! Aber Auto bedeutet für mich auch Sicherheit. Es ist eine Erweiterung meiner Komfortzone, ich fühle mich wohl in Autos, meine Familie ist wohl das, was man Vielfahrer nennt, die Verwandtschaft ist über das ganze Land verteilt, da kommt man gut rum. Ich kann im Auto besser schlafen als in meinem Bett – außer als Fahrerin, natürlich.

In der Klinik gab es gleich am ersten Tag das Aufklärungsgespräch. „Sie machen einen Führerschein? Sehr gut, dem steht eigentlich nichts entgegen, aber bitte nicht in einem akuten dissoziativen Zustand.“ Gut, das war mir klar. Aber dann kamen ganz viele neue Symptome ans Licht, die schon länger da sind, aber endlich Namen tragen. Dissoziative Bewegungsstörung, Dissoziativer Stupor, Dissoziative Fugue (vielleicht). Meine Beine zuckten unkontrolliert, tagelang konnte ich nicht richtig laufen, manchmal nicht einmal bewegen. Ich wurde unsicher. So richtig. Führerschein – ist das eine gute Idee?

Als ich wieder nach Hause kam, ging ich drei Tage später in die Fahrschule. Ich wurde herzlichst begrüßt, es konnte endlich weitergehen! Die Theorieprüfung machte ich in der darauffolgenden Woche. Nur hatte ich ein kleines Problem mitgebracht (neben den Symptomen): Schlaftabletten. Ich wurde in der Klinik auf 50 mg Promethazin eingestellt, im Beipackzettel steht, dass ich mir gut überlegen soll, ob ich am Straßenverkehr teilnehmen will. Und genau so sagte ich das auch dem Fahrlehrer. Wir warteten noch eine Woche mit der ersten Fahrstunde nach dem Klinikaufenthalt, in der Zeit lernte ich, wann ich die Tablette nehmen sollte (21 Uhr abends), wie lange ich dann schlafen muss (mindestens acht Stunden), damit ich kognitiv und motorisch voll fit war. Die Fahrstunden waren meistens um 9 Uhr morgens, es gab nie Probleme.

Vor der ersten Fahrstunde nach der Klinik war ich ziemlich aufgeregt. Ich gebe es ehrlich zu, ich bin ein Streber, selbst in der Klinik bin ich dauernd im Kopf durchgegangen, wann man in welchen Gang schaltet, wie man so ein Auto in Bewegung setzt und wie man korrekt auf die Autobahn fährt. Ich bin in Gedanken vor jedem Schlafengehen eine Runde Auto gefahren. Ungefähr so war dann auch die erste Fahrstunde. „Gut, wir melden dich zur Prüfung an, Anfang Dezember, bis dahin kriegen wir das hin.“ Anfang Dezember. Vier Wochen.

Insgesamt hatte ich 25 Fahrstunden, inklusive Sonderfahrten und allem Drum und Dran. Ein paar Mal fuhr mein Mann mit, wir simulierten die Prüfungsfahrt, damit ich mich daran gewöhne, dass jemand auf der Rückbank sitzt (Ja, beim Rückwärtsfahren bin ich trotzdem jedes Mal erschrocken, wenn ich mich umgedreht habe, er war immer so still da hinten). „Du fährst gut“, sagte mein Mann jedes Mal. Selbst bei den für mich richtig schlechten Fahrstunden bestätigte mein Fahrlehrer: „Du bist bereit für die Prüfung.“

In dieser Zeit, in diesen vier Wochen, hatte ich einige dissoziative Zustände. Ich konnte mich plötzlich nicht mehr bewegen, meine Beine zuckten ohne Ende, ich saß abends auf dem Sofa und zergrübelte mir den Kopf, wie ich so bitte eine Kupplung treten soll. Am nächsten Tag bei der Fahrstunde war davon nichts zu spüren. Auto fahren macht mich ruhig.

Ich sollte vielleicht dazuschreiben, dass ich selbstverständlich nie in einem kritischen, emotionalen Zustand hinter dem Steuer saß. Denn ich habe etwas, das ich der Erkrankung verdanke: Ich habe eine ziemlich hohe Gewissenhaftigkeit. Wo andere vielleicht noch sagen: „Ach, das geht noch, so müde bin ich gar nicht“, fahre ich nicht Auto. Ich kann mich realistisch einschätzen und ich erzwinge nichts. Wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht. Das ist nichts Neues für mich.

Aber so ein Auto, das ist schon Freiheit. Gerade jetzt im Winter kann ich alleine zum Supermarkt fahren, zum Arzt im Nachbarort. Ich brauche dafür nicht mehr meinen Mann. Als mein Therapeut mich fragte, wie ich meine Unabhängigkeit vergrößern könnte, antwortete ich lapidar: „Ich mache gerade einen Führerschein.“ Hier auf dem Land ist das ziemlich viel wert.

Da war nur leider diese eine Sache, die ich eigentlich gar nicht kann: Prüfungen. Sowohl die theoretische, als auch die praktische bedeuten für alle Fahrschüler Stress. Ich hatte in der Vergangenheit nur leider die schlechte Angewohnheit, in Prüfungen zu dissoziieren. Prost Mahlzeit, sage ich da. Ehrlich, ich erwartete von der theoretischen Prüfung nicht viel. Bestehen, das wäre toll, aber mehr auch nicht. Ich nahm 100 Prozent Druck heraus, bereitete mich gründlich vor, machte viele Pausen und sagte mir selbst immer: „Wenn’s nichts wird, wird’s halt das nächste Mal, ich will nur schauen.“ Ich bestand mit 0 Fehlerpunkten und ohne jeden Hauch einer Dissoziation. Das war meine erste Prüfung in drei Jahren. Jetzt weiß ich, dass ich es noch kann.

Die praktische Prüfung wurde von mir und meinem Fahrlehrer ziemlich gründlich vorbereitet. Er erklärte mir alles Wochen vorher ausführlich, hielt mich auf dem Laufenden, wer mein Prüfer sein würde („Ach, der ist in Ordnung, mit dem saß ich im Elternbeirat.“), wir übten viel und ich merkte, dass ich es konnte. Die Prüfung selbst war fast schon zu entspannt. Wir fuhren in den Nachbarort, 30er-Zonen, Rechts vor Links, Autobahn, Landstraße, rückwärts einparken, Kreisverkehr, Kreuzungen, Ampeln, wie schaltet man das Fernlicht ein und wo ist der Heckscheibenwischer? Fahrlehrer und Prüfer unterhielten sich die ganze Zeit über Autos und geplante Bauvorhaben unserer Kleinstadt, immer, wenn ich unsicher wurde, machte mein Fahrlehrer einen Scherz und lenkte das Thema von mir ab. Am Ende hatte ich einen Führerschein in der Hand. „Und nie die Brille vergessen“, sagte der Prüfer noch (ich brauche eine zum Fahren), wir lachten alle, am nächsten Tag bestellte ich mir eine Notfallbrille, die ich im Auto deponieren werde – denn ja, gleich bei der zweiten Fahrt vergaß ich natürlich mein Nasenfahrrad, der Mann musste das Steuer übernehmen.

Die erste Zeit ohne Fahrlehrer, mit so einem Führerschein und mit voller Haftung („Wenn was passiert, bin ich am Arsch“), war schon komisch. Die erste Woche fuhr der Mann noch mit, als Backup, wir cruisten nach Regensburg, nach München zum Kieferorthopäden und nach Chemnitz zum Therapeuten. Diese Strecken muss ich selbst können, in meiner ersten Woche fuhr ich fast 500 Kilometer.

Heute war ich zum ersten Mal alleine unterwegs. In die Stadt zum Geschenke kaufen, zur Hausärztin, zur Bank, dann zum Supermarkt auf der anderen Seite. Mittendrin begann es heftig zu schneien, die Kinder hatten gerade Schulschluss und liefen planlos über die Straße. Ich habe es geschafft. Ich habe niemanden überfahren, habe stets ans Blinken und über die Schulter blicken gedacht, bin gut in die Parklücke gekommen, ich kann’s wohl.

Am Anfang war dieser Gedanke gar nicht da. Der Innere Kritiker fährt eben immer mit, jedes Abwürgen wurde hämisch beäugt, jedes „Hm, den hätte ich noch durchlassen können, das war ein bisschen knapp“ und jedes schiefe Einparken. Nach jeder Fahrt sagte ich zu meinem Mann: „Ich bin so eine schlechte Autofahrerin“ und er antwortete: „Du fährst gut Auto, du bist eben noch Fahranfängerin.“ Und tatsächlich lerne ich jetzt vieles, das in der Fahrschule gar nicht vorkam. Das längere Fahren in einer Tiefgarage, das spurtreue Abbiegen in der Großstadt, sowieso vier Fahrstreifen, wenn ich ganz rechts bin und gleich links abbiegen muss. An jeder Erfahrung wachse ich. Und langsam kann ich selbst dem Inneren Kritiker sagen: „Ich fahre gut Auto.“ Oder: Immerhin seit einer Woche unfallfrei.

Ich habe acht Jahre lang überlegt, ob ich wirklich einen Führerschein machen will. Seit meinem achtzehnten Geburtstag war ich mir sicher, dass ich niemals so etwas Komplexes wie Autofahren können werde. Und jetzt kann ich’s halt. Ich fahre bei Schneestürmen alleine Auto, fluche, wenn mir jemand die Vorfahrt nimmt („Hergottsakrament, etzad schleich di!“), bewege mehrere Tonnen weiße Stahlpracht (so was Schönes hat noch niemand zu unserem Auto gesagt). Gut, im Herzen bin ich noch Öko, das Fahrrad wird seinen Dienst noch tun, genauso wie die Füße. Aber mir reicht’s, dass ich weiß, dass ich könnte, wenn ich wollte. Und es manchmal auch einfach mache. Dieses Autofahren. Dieses „Das werde ich nie lernen!“. Dieses Gefühl von Freiheit. Von Unabhängigkeit, das ich wegen der PTBS gar nicht mehr kannte. Dieses Gefühl von Kompetenz und Kontrolle. Und nebenbei hatte ich einfach den coolsten Fahrlehrer der Welt!

P.S.: Es ist übrigens nicht bei jedem mit Dissoziationen sinnvoll, einen Führerschein zu haben. Eine Mitpatientin hatte Autofahrverbot. Deshalb ist es wichtig, immer individuell die Situation zu betrachten und dann zu entscheiden. Ist ja bei körperlichen Erkrankungen (Epilepsie, Narkolepsie etc.) genauso.

Triggerwarnungen - sinnvoll?

Triggerwarnungen. Ein Thema, bei dem sich die Meinungen in zwei Lager teilen: „Ja, bitte“ und „So ein Quatsch“. Ich persönlich bin tatsächl...