Mythos Assistenzhund

Assistenzhunde, egal wofür, sind toll – darauf können wir uns sicher einigen. Sie können das Leben ihrer Menschen deutlich verbessern und ihnen ein freieres Leben in gesellschaftlicher Teilhabe ermöglichen. Leider werden Assistenzhunde inzwischen so in den Himmel gehoben, dass dabei ein paar Fakten auf der Strecke geblieben sind. Ich weiß, dass Fakten immer wehtun können und deshalb gleich zu Beginn: Ich möchte hier niemandem vor den Kopf stoßen. Aber die Realität ist manchmal nicht so, wie man sie sich wünscht.

Gerade bei Assistenzhunden sollte man realistisch bleiben, weil hier viel Enttäuschungspotential besteht (das mich im Übrigen auch voll von der Seite getroffen hat, weil mir alles Mögliche von der Assistenzhundeschule versprochen wurde). Deshalb ist es mir wichtig, realistisch über das Thema aufzuklären, damit niemand so reinfällt, wie ich das tat. Dabei kann ich hier immer nur auf meine Erfahrung und Meinung zurückgreifen.

Nochmal: Assistenzhunde sind super und können toll helfen, aber sie sind keine Fabelwesen, die einfach ins Leben stolpern und es perfekt machen. Deshalb hier die beliebtesten Mythen über den Assistenzhund (Feenstaub inklusive).

 

Mythos 1: Assistenzhunde können Symptome wegzaubern

Schön wär’s. Wenn ich in meiner medizinischen und psychologischen Laufbahn (also als Betroffene) eins gelernt habe, dann das: Die wenigsten Hilfsmittel, Therapien oder Medikamente können Symptome oder die dazugehörigen Erkrankungen einfach wegzaubern. Sie können lindern, helfen, unterstützen, aber selten etwas vollständig verschwinden lassen.

Assistenzhunde können das auch nicht. Egal, ob es ein Assistenzhund für eine Autistin oder einen Autisten, einen Menschen mit PTBS, Down-Syndrom, Epilepsie, Diabetes, Angststörung, Sehstörung, Hörstörung oder andere Erkrankung oder Behinderung ist: Die Erkrankung oder Behinderung bleibt. Das ist gut, denn eine Behinderung ist nichts, was „weggezaubert“ gehört.

Trotzdem kann ein Assistenzhund natürlich helfen, sonst wären die ja phänomenal überflüssig. Assistenzhunde können lernen, auf Notsituationen zu reagieren, andere Personen darauf hinzuweisen (zum Beispiel durch Bellen oder das Drücken eines Notfallknopfes auf Hundeschnauzenhöhe), sie können Medikamente oder Skills bringen, Fremde abschirmen, trösten und vieles weiteres.

Diese Notsituationen werden aber nach wie vor auftreten und sie werden sich genauso blöd anfühlen wie ohne Hund. Sie werden vielleicht bei einem sehr treffsicheren Hund und viel Glück (es muss ja trotzdem erst mal jemand in der Nähe sein, der*die helfen will) nicht mehr so gefährlich ausfallen und durch das rechtzeitige Bringen von Medikamenten oder Skills abgemildert werden und ja, so ein Flashback ist angenehmer mit Hundeflausch zwischen den Fingern – aber es ist trotzdem da.

 

Mythos 2: Ein Assistenzhund kann alles lernen

Also an meiner Steuererklärung ist Yoshi gescheitert. Nein, Spaß beiseite. Wir wissen inzwischen alle, dass Hunde sehr intelligent sind und gerne lernen. Labradore wurden zum Beispiel gezüchtet, um beim Fischfang zu helfen, sie haben unter anderem die vollen Fischernetze an Land gezogen. Woran ich das heute noch an Yoshi merke? Er angelt gerne Zeug aus dem Wasser. Kleine Geschichte nebenbei. Labbis sind aber auch tolle Apportierhunde, weil sie dafür ja seit vielen Jahrhunderten gebraucht werden. Das Bringen einer Notfalltasche gehört damit sozusagen ins Standardwerk eines Labradors. Praktisch.

Außerdem wissen wir, dass Hunde eine sehr feine Nase haben. Wusstet ihr, dass der Nasenabdruck eines Hundes genauso individuell ist wie der Fingerabdruck eines Menschen? Ich darf nicht immer abschweifen. Hunde riechen gut (ihre Pfoten übrigens aufgrund eines Bakteriums nach Popcorn). Sie können auch selbst gut riechen, also mit ihrer Nase. Das hilft nicht nur beim Erschnüffeln von Drogen am Flughafen, sondern zum Beispiel auch von Unterzucker.

Trotzdem gibt es Dinge, die ein Hund anatomisch nicht kann oder nicht tun sollte. Das sollte vor Ausbildungsbeginn ehrlich mit einer ehrlichen Hundeschule besprochen werden. Es gibt leider sehr viele Menschen, die angeblich Superpersonen im Bereich der Assistenzhundeausbildung sind und einem alles versprechen. Hier meine Top 4:

1.    „Mein Hund kann lernen, mein schwerbehindertes Kind nachts umzulagern.“

Spannend, wie soll er das machen? Mit seinen gut ausgebildeten Oberarmen und den wirklich praktischen Daumen? Oder soll er dein Kind, das genauso viel wiegt wie der Hund, mit seiner Nase so lange in die Seite pieksen, bis es auf magische Art auf der anderen landet?

2.    „Mein Hund kann mein Kind vor dem Weglaufen beschützen.“

Das kann er schon, aber da sind wir ganz schnell bei dieser supertollen Autisten-Leine. Wenn du dein Kind irgendwo festbinden willst, wie wäre es mit einem Baum? Ein Hund ist keine Aufsichtsperson, diese Verantwortung kannst und darfst du gar nicht auf jemanden übertragen, der dein Kind für einen halben Döner auf der Straße verkaufen würde. Ein Hund ist ein Hund und damit selbst richtig gut ausgebildet und trainiert sehr fehleranfällig. Das gehört zu seiner Natur. Mein Hund bleibt auch an einer Straße stehen, aber mit einer Trefferquote von 70 Prozent (und vorausgesetzt, dass auf der anderen Straßenseite nicht sein bester Hundefreund auftaucht). Und wieso denkst du eigentlich, dass dein Kind die Leine nicht abmachen kann? Mal ganz davon abgesehen: Wie bringst du dem Hund bei, wo das Kind hinlaufen darf und wohin nicht? Bei einem Assistenzhund geht es ja nicht darum, das Gartentor zu bewachen, dass das Kind da nicht rausgeht, sondern um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – also um draußen. Hat der Hund einen Katalog bekommen, wo das Kind sich hinbewegen darf und wann und mit wem? Und wenn du als Aufsichtsperson eh immer mitgehst, wofür ist dann der Hund?

3.    „Mein Hund kann mich im Notfall wiederbeleben.“

Da bin ich mir nicht mal sicher, ob er das nicht wirklich kann. Wie man es ihm beibringen soll, das ist vermutlich eher die Frage. Den Defibrillator zu bedienen, fällt vermutlich aus. Mund-Nasen-Beatmung will ich von meinem Hund gar nicht. Was bleibt, wäre der Herzteil der Herz-Lungen-Wiederbelebung (ehemals Herzdruckmassage genannt). Der Hund könnte schon mit voller Wucht auf deinem Brustkorb herumspringen. Ob das so effektiv ist, darauf würde ich mich allerdings nicht verlassen. Was der Hund eher kann, ist um Hilfe zu rufen (wobei die meisten Menschen einen bellenden Hund eher meiden und großzügig umrunden).

4.    „Mein Hund kann mich stützen.“

Da bin ich immer ein bisschen skeptisch. Ja, ein Hund kann eine tolle Stabilisierungshilfe sein (bei Multipler Sklerose zum Beispiel oder auch bei einem Schwindelanfall aufgrund eines dissoziativen Zustands), aber eine Stütze eigentlich nicht. Dafür ist ein Hundekörper nicht gemacht, der ist viel zu wenig belastbar. Pferden musste man auch erst einmal einen starken Rücken anzüchten, damit sie Menschen darauf tragen können. Die Wirbelsäule eines Hundes ist für starke Belastung nicht geeignet. Es gibt Hunderassen, die an sich in ihrer Anatomie stabiler sind als andere und auch durch gezieltes Training kann die Rückenmuskulatur eines Hundes gestärkt werden. Aber einen Rollator zum Beispiel wird ein Hund einfach nie ersetzen können.

 

Mythos 3: Ein Assistenzhund muss als Assistenzhund geboren sein

Hach ja, der Mythos der fabelhaften Diabetes-Warnhunde, die schon als Welpe diese ominöse extra-feine Nase haben. Wisst ihr, warum Labbis und Schäfis häufig als Drogenspürhunde eingesetzt werden und seltener Yorkshire Terrier und Dobermänner? Die haben alle eine extrem gute Nase, aber erstere lernen lieber mit dem Menschen, haben eine praktische Größe und sind sozialverträglich, ohne ängstlich zu sein. Es hat sich einfach etabliert.

Trotzdem kann ein Neufundländer Unterzucker genauso gut erschnüffeln wie ein Labrador. Der Neufundländer eines Freundes kann ein halbes Leckerli im Gras auf zwanzig Meter Entfernung riechen (und hinlaufen und es fressen). Yoshi kann das zwar auch, aber nicht besser. Vielleicht wäre Yoshi aber einfach kein geborener Diabetes-Warnhund (Es heißt übrigens „Diabetes-Warnhund“ und nicht „Diabetiker-Warnhund“, weil vor Menschen mit Diabetes soll er ja nicht warnen, die sind im Allgemeinen nicht sehr gefährlich).

Man kann bestimmte Dinge jedem Hund beibringen. Ja, Assistenzhunde sollten einem bestimmten Charaktertypen entsprechen (ruhig, ausgeglichen, angstfrei, neugierig, freundlich, intelligent), weshalb sich bestimmte Rassen einfach durchgesetzt haben (vornehmlich die, die gerne auch als Familienhunde bezeichnet werden). Die gute Nase ist aber kein Ausschlusskriterium, eher die Bereitschaft, diese auch für den dazugehörigen Menschen einzusetzen.

Stellt euch mal vor, wie schlimm es wäre, wenn ihr einen acht Wochen alten Hund aussucht und nach zwei Jahren stellt sich raus: Der kann gar nicht riechen. Das wäre unpraktisch, weshalb die extra seriösen (ähem) Assistenzhundeschulen sogenannte Welpentests anbieten. Teilweise ergibt es schon Sinn, dass eine erfahrene Hundetrainerin oder ein erfahrener Hundetrainer sich den Hund mal anschaut, nämlich in der Hinsicht, dass sich bereits früh der Charakter eines Hundes zeigt. Yoshi konnte zum Beispiel vorführen, wie stur und furchtlos er ist. Alles andere an Welpentests geht eher in Richtung Wünschelrute und kostet im besten Fall eine ganz schöne Stange Geld.

 

Mythos 4: Der spürt das, der macht das von selbst

Ja, das wurde mir erzählt. Als es darum ging, dem sturen pubertären Bock namens Yoshi das Blocken nach vorne beizubringen, wurde mir nach verzweifeltem Versuchen einfach erzählt, dass er das im Notfall schon von selbst macht. Mir wurden auch Beispiele genannt, wo er es bei der Trainerin anbiete und Kerle mit dem Arsch rückwärts durch den halben Laden drängeln würde. Als Yoshi dann bei uns eingezogen war, brachte ich es ihm in drei Wochen selbst bei. Jetzt kann er’s auch, ohne irgendwas spüren zu müssen. Dass er es soll, hat er nämlich irgendwie nie gespürt. Vielleicht liegt’s auch an mir (was ironisch wäre, denn er ist ja mein Assistenzhund).

Ein Hund ist feinfühlig und intelligent. Es gibt Legenden und wahre Geschichten von Hunden, die Schlaganfälle oder Herzinfarkte angekündigt haben und ja, ich bin fest davon überzeugt, dass das geht. Hunde können epileptische Anfälle wahrnehmen, bevor sie „ausbrechen“, einfach, weil sich vorher sehr viel in einem Körper tut, bevor wir es selbst merken. Bei psychischen Symptomen ist es genau dasselbe. Ein Flashback, eine Panikattacke oder ein dissoziativer Zustand kündigen sich an und zwar so minimal, dass wir es nicht mitbekommen – unsere Hunde allerdings sehr wohl.

Was hat Yoshi die ersten dutzend Male gemacht, als ich in einen dissoziativen Stupor, eine Panikattacke oder ein Flashback gerutscht bin? Er ist weggelaufen. Dann ist er wieder hergekommen, hat mich panisch und extrem schwanzwedelnd umkreist. Hätte nur gefehlt, dass er seine nicht vorhandenen Hände neben sein Gesicht gehalten und laut gekreischt hätte. Das war weder für den Hund, noch für mich angenehm.

Ein Hund spürt sehr wohl, was in uns vorgeht und sie wissen, wenn wir traurig, wütend, ängstlich oder in ein Symptom gerutscht sind. Sie wollen uns helfen, uns trösten, weil sie sehr menschenbezogen sind (zumindest die meisten von ihnen, viele ja auch einfach gar nicht) – aber sie wissen nicht wie. Woher auch? Viele greifen dann auf das altbewährte Portfolio zurück: Abschlecken, herumlaufen, manche bellen, kratzen an Bein oder Arm und so weiter. Das sind Stresszeichen – die man allerdings in sinnvolle Bahnen lenken kann.

Eine Bekannte mit Assistenzhund hat mir vor Anschaffung von Yoshi eine Sache immer wieder gesagt: Zeig ihm, dass du Herrin der Lage bist. Ist schwer, wenn ich gerade gar nicht klarkomme, aber sie hat Recht. Wenn ich dem Hund zeige, dass meine Symptome für ihn Stress bedeuten, dann ist das auf Dauer nicht gut für den Hund. Wenn ich ihn aber anleite, ihm ruhig verklickere, wann er meine Skills bringen soll, wann er sich neben mich legen soll, wann er bellen soll (macht Yoshi jetzt nicht, ist nur ein Beispiel für andere) und wann er mich auch einfach in Ruhe lassen soll, wann er also Pause hat (nämlich nach getaner Arbeit in Form von Anzeigen und Anleitung annehmen), dann kann er eine echte Hilfe für mich sein.

Die Ausbildung eines Assistenzhundes ist kein Zuckerschlecken. Wie gesagt, man bekommt kein fertiges Fabelwesen, das auf alle Symptome korrekt reagiert. Man bekommt erst mal ein Nervenbündel, das keine Ahnung hat, was da gerade passiert und dessen liebstes Hobby das Kacken ins Wohnzimmer ist, und wenn man dann soweit ist, dass es Sitz und Platz kann, kommt das Nervenbündel in die Pubertät. Wenn die vorbei ist, kann man ernsthaft darüber nachdenken, ob langsam mit der Assistenzhundeausbildung begonnen werden sollte. Denn ein Hund lernt vor dem stressigen Anzeigen erst einmal eines: Ruhe. Während der Hund das lernt, ist er übrigens auch einfach gar keine Hilfe, teilweise ganz im Gegenteil.

Lasst es uns zum Schluss mal mit einem Beispiel aus der Menschenwelt versuchen: Fahrschule. Wir wissen intuitiv, wann wir bremsen sollten, trotzdem muss der Fahrlehrer uns vor dem ersten Losfahren noch erklären, welches Pedal dafür zuständig ist. Wir wissen auch intuitiv, dass man im Dunkeln mit Licht besser sehen kann, trotzdem müssen wir den dazugehörigen Hebel erst mal finden. Und dann müssen wir sehr viel üben. Bei Assistenzhunden ist es genauso. Sie können gut wahrnehmen und wollen uns helfen, sie brauchen nur eine Anleitung und viel Training darin, wie das für uns am besten klappt. Dann können sie echte Freunde für ein Hundeleben werden.

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