Was sind Skills?

Skills. Noch so ein neumodisches Wort, das in letzter Zeit seinen Weg in die Räume der Psychotherapien gefunden hat. „Ich möchte, dass Sie sich eine Skills-Tasche zusammenstellen“, schlug mein Therapeut vor ein paar Wochen vor, „Damit Sie Ihre wichtigsten Hilfen immer dabei haben.“

Skills-Tasche. Bei mir ist das ein ziemlich großes Ding, das die Hälfte meines Rucksacks ausfüllt, den ich immer bei mir trage. Einmal musste ich sie zu Hause lassen, weil die Sonnencreme sonst nicht mehr in den Rucksack hineingepasst hätte. Aber warum ist diese Tasche so wichtig? Wieso soll ich sie immer bei mir tragen? Hier ein kleiner Überblick.

 

Die Skills-Tasche – Wundertüte für Psychos

Eine Skills-Tasche enthält alles, was man bei Panikattacken, Dissoziationen, Suizidgedanken oder Flashbacks so brauchen könnte. Das können Gegenstände sein, aber auch Fotos, Erinnerungskärtchen oder Notrufnummern. Dabei verfolgen diese kleinen Helferlein verschiedene Zwecke, vom Wecken aus Dissoziationen bis hin zur Regulation von Emotionen. Von der Größe her variiert die Tasche zwischen Schlampermäppchen und Waschtasche, wobei das von Anzahl und Volumen des Inhalts abhängig ist. Ich selbst habe mir eine Art Federtasche angeschafft, weil die für mich den besten Überblick über meine kleinen Hilfen bietet – mit Extratäschchen und Schlaufen für kleinere Dinge. Ihren Zweck erfüllen diese Dinge über verschiedene Kanäle. Was aber ist drin und wie funktioniert das Ganze?

 

Kanal 1 – Olfaktorisch und gustatorisch

„Ich bin so aufgeregt, ich brauche ein Bonbon und meinen Riechstab.“ Noch nie gesagt? Da hast du aber was verpasst! In meiner Skills-Tasche ganz oben liegen immer ziemlich scharfe Ingwerbonbons, von denen ich mir eins in den Mund schiebe, wenn ich richtig aufgeregt bin und das Gefühl habe, gleich durchdrehen zu müssen. Denn bei einem ordentlichen „Verdammt, ist das scharf!“ haben Gedankenkreisel keine Chance mehr. Direkt neben den Bonbons hängt ein Inhalierstift in der Schlaufe. Den Duft kennen vermutlich einige von euch, denn er stammt von der Marke WICK und riecht nach Menthol und anderen sehr scharfen Düften. Vermutlich könnte der einen aus jeder Ohnmacht erwecken, aber ich mag den Geruch einfach, denn er spült mir den Kopf frei. Worauf auch ein paar Menschen mit PTBS und anderen psychischen Erkrankungen schwören, sind Ammoniak-Ampullen. Die kann man in jeder Apotheke kaufen und meine Güte, die haben es in sich. Der scharfe Duft nach Ammoniak, mit dem man vermutlich einen ausgewachsenen Elefanten killen könnte, hilft zum Beispiel in dissoziativen Zuständen. Ich selbst habe einmal an so einer Ampulle geschnüffelt und anschließend 15 Minuten geweint, weil der Reiz so extrem war. Also für mich nichts, für andere aber die Hilfe des Jahrhunderts. Manchen helfen auch Chili-Bonbons, -Lutscher oder ganze Schoten, die sie immer bei sich tragen. Die olfaktorischen und gustatorischen Skills sind wie alle anderen auch eben hochindividuell. Was dem einen hilft, kann den anderen zum Weinen bringen.

Auch immer in meiner Tasche zu finden ist Lavendelöl. Das erfüllt bei mir tatsächlich seinen Zweck über zwei Arten: Zum einen beruhigt mich der Duft, weil Lavendel das eben tut, zum anderen aber ist der Duft für mich sehr vertraut und mit positiven Momenten und Emotionen verknüpft. Ich fühle mich sicherer, wenn ich Lavendelöl an mir dran habe. Ähnlich funktioniert auch der sogenannte Aspura-Clip (Ja, ich hab mal die Höhle der Löwen geschaut), ich habe allerdings keine Ahnung, ob die Dinger noch verkauft werden. Ein Aspura-Clip ist ein kleines „U“, das man sich in die Nase einführt. Klingt schlimmer, als es ist. In diesem „U“ sind ätherische Öle drin in verschiedenen Duftrichtungen, die verschiedene Symptome reduzieren sollen. Panikattacken, Flashbacks oder Dissoziationen standen jetzt nicht mit auf der Verpackung, bei mir hilft der lila Clip mit Lavendel aber eben genau dagegen.

 

Kanal 2 – Taktil

In der Klinik habe ich mir mal während einer Dissoziation einen Igelball so fest in die Hand gedrückt, dass noch immer ein rotes Mahnmal auf meiner Handinnenfläche prangt. Ob man mit Igelball oder Akkupressurring gut kann, ist eben wie immer von Person zu Person unterschiedlich. Igelbälle kennen vermutlich die meisten von euch, sei es aus der Physiotherapie oder eben vom Psychotherapeuten. Es gibt verschiedene Arten von Igelbällen, verschiedene Härtegrade von Ball und Stacheln, verschiedene Größen, aber von der Art her funktionieren sie immer gleich. Zum einen hat man etwas in der Hand, das den Kontakt zur Realität herstellt, zum anderen hilft der sensorische Reiz der Stacheln gegen etwaige psychische Symptome, wie Panikzustände oder Flashbacks. Akkupressurringe, die man sich über einzelne Finger gleiten lässt, funktionieren ähnlich. Ich selbst habe eine etwas weniger stachelige Variante gewählt. Mein taktiler Helfer ist ein kleines Plüschschaf, das inzwischen zum dritten Mal sein linkes Auge verliert. Paul Hamburg, so heißt der kleine Kerl, das steht auf dem Etikett, wandert fast automatisch in meine Hand, wenn ich angespannt bin. Dann fahre ich ganz konzentriert seine Konturen mit dem Finger nach, drücke ihn fest an mich oder schaue ihm tief in die Augen.

Auch über die Haut können wir Schmerzreize wahrnehmen, nicht nur über Mund und Nase mithilfe von scharfen Bonbons oder Inhalierstiften. Mein Therapeut hat mir Finalgon-Salbe empfohlen, ich muss aber gestehen, dass ich mich bis jetzt noch nicht getraut habe, sie anzuwenden. Finalgon-Salbe ist eine Wärmesalbe, die ziemlich warm werden kann. Deshalb soll man sich anschließend auch immer eine Mullbinde über die Stelle wickeln oder sie anderweitig abdecken. Und bloß nicht in die Augen fassen! Etwas harmloser finde ich da Tiger Balm. Genauso wie WICK wird dieses traditionelle chinesische Hilfsmittel eigentlich bei Erkältungen eingesetzt und riecht relativ ähnlich. Wenn man Tiger Balm auf die Haut aufträgt, wird sie zunächst kalt und dann im besten Fall warm. Hilft super zum Beispiel auch bei Verspannungen. Mir hilft Tiger Balm auf zwei Arten: Der Duft beruhigt mich und lässt mich klarer denken, die Kälte, beziehungsweise Wärme, lenkt mich von Gedankenstrudeln und emotionalen Ausnahmezuständen ab.

Und dann habe ich natürlich nicht nur was zum Naschen und was zum Entdecken drin, sondern auch was zum Spielen – der Fidget Cube. Das Ding kannte mein Therapeut tatsächlich auch noch nicht. Ursprünglich empfohlen wurde der Würfel für Menschen mit ADHS, er funktioniert aber bei mir auch in extremen Anspannungszuständen, wie zum Beispiel im Bus oder in einer Prüfung. Tatsächlich ist der Fidget Cube nichts anders als eben das: Ein Würfel. An seinen sechs Seiten findet man verschiedene Angebote, seine Finger zu bemühen und zu beschäftigen. Ein Kippschalter ist da, genauso wie ein kleiner Kreis, den man kreiseln lassen kann, Knöpfe zum Drücken, eine metallene Kugel, die man unter dem Daumen drehen kann, eine Art Mini-Joystick und ein Feld, in das man seinen Daumen legen kann und das akkupressurmäßig beruhigen soll. Zu finden ist das Ding, soweit ich weiß, nur online, macht aber eine Menge Spaß und hilft mir eben in starken Zuständen der Anspannung.

 

Kanal 3 – Visuell

Natürlich wollen die Augen genauso wie Nase, Mund und Haut beschäftigt werden. Hier kommen die visuellen Skills ins Spiel. Oben hatte ich ja bereits die Fotos angesprochen. Die helfen zum Beispiel dadurch, dass man sich an glückliche, ruhige Momente erinnern kann, sich Menschen näherbringen kann, die einen unterstützen und lieben, oder indem man das Foto in allen seinen Details analysiert, was ziemlich ablenken kann. Manch einer trägt in seiner Skills-Tasche ein Foto von sich selbst in jüngeren Jahren bei sich, um sich an das Innere Kind zu erinnern, für das man gerade stark sein möchte.

Ähnlich funktionieren auch die sogenannten Erinnerungskärtchen. Auf ihnen zu finden ist neben bunten Bildern meistens auch ein Spruch, der einen an bestimmte Dinge erinnert. „Ich habe das schon einmal geschafft, ich schaffe es erneut.“ – „Ich bin ruhig und kompetent.“ – „Ich bin stark und kann mich dieser Situation stellen.“ Positive Gedankenmuster nennt man das, Erinnerungen an die eigene Kompetenz, an Ruhe, ans Atmen. Genauso wie Fotos kann man sie zur Hand nehmen, wenn man sich überfordert oder extrem angespannt fühlt.

In meiner Skills-Tasche sind noch zehn Kärtchen (ich werde noch ein paar aussortieren müssen, die nicht so gut funktionieren), die verschiedene Aufgaben beinhalten. „Atmen“ zum Beispiel liegt immer ganz oben (Tief in den Bauch einatmen, tief in die Brust einatmen, tief aus dem Bauch ausatmen, tief aus der Brust ausatmen). Sortiert sind diese Kärtchen in zwei Kategorien: Arousal (also Anspannung) und Dissoziation. Was im einen Zustand hilft, kann ich nämlich im andere nicht abrufen. Auf den Dissoziationskärtchen (es sind drei) stehen folgende Aufgaben: Die 5-4-3-2-1-Übung, mein Lieblingsgedicht, dass ich so lange aufsage, bis ich wieder vollständig in der Realität angekommen bin und mich beruhigt habe, und mein Name und meine Adresse, die mich daran erinnern, dass ich nicht mehr in der damaligen Situation bin, sondern in Sicherheit. Mein Therapeut ist übrigens nicht ganz so überzeugt von den Kärtchen, weil ich im Fall der Fälle gegebenenfalls vergessen könnte, eins zu ziehen und dann auch das richtige zu finden. Aber sie sind in der Tasche gut sortiert und auswendig kann ich sie eh. Sie sind mehr eine Erinnerung.

 

Kanal 4 – Kognitiv

Bleiben wir noch bei den Kärtchen. Auf einer von ihnen sind nämlich auch Denkaufgaben gedruckt: „Finde 5 Frauennamen, die mit G anfangen“ – „Zeichne dein Traumhaus“ – „Denke an 10 Pflanzen, die du im Garten hast“. Das kann einen eine Zeit lang beschäftigen und von der angstauslösenden Situation ablenken. Mancher Mensch in einer psychischen Ausnahmesituation fängt auch an, von 100 in 13-er-Schritten rückwärtszuzählen. Was hilft, ist erlaubt (solange es niemand anderem schadet natürlich).

Auch immer in der Tasche ist bei mir ein Parkplan aus dem Europa-Park. Ja, ich weiß, Fangirl, aber der hilft fast immer, wenn ich extrem aufgeregt bin oder sogar halb in einem Flashback hänge und das ebenfalls auf zwei Arten: Zum einen erinnert er mich an einen Ort, an dem ich mich wohl und sicher fühle, zum anderen kann ich mich sehr lange mit ihm beschäftigen. Welche Route würde ich laufen, wenn ich alle großen Achterbahnen abklappern möchte? Wie komme ich am besten zu Fuß von der einen Attraktion zu einer anderen? Es ist 12.34 Uhr und ich möchte zu der Show, die um 14.00 Uhr beginnt. Welche Bahnen schaffe ich dann vorher noch, wenn die durchschnittliche Wartezeit 10 Minuten beträgt? Flashback? Was war das noch mal? Klar, das ist ein ziemlich individueller Tipp, aber bei mir hilft er Wunder. Und er macht darauf aufmerksam, dass Skills nicht nur von Typ zu Typ unterschiedlich sind, sondern, dass man dabei auch ziemlich kreativ werden kann.

 

Was hilft bei was?

Ein Skill funktioniert nicht immer bei allem, weshalb man mehrere bei sich tragen sollte. Mein Therapeut empfiehlt eine Anzahl von 3 bis 5 Skills, die aber auch zielsicher wirken. Wenn man sich noch nicht sicher ist, was wann helfen könnte, kann man auch mehr ausprobieren und von Zeit zu Zeit aussortieren. Wichtig ist: Was bei anderen hilft, kann bei dir mehr Schaden anrichten. Ich sage nur „Ammoniak-Ampullen“. Sei also ehrlich zu dir und teste alles, was für dich in Frage kommen könnte, an der Realität. Dabei kannst du natürlich auch kreativ werden. Was tut dir im Alltag gut? Welche Düfte magst du, was nicht so gerne? Manche Skills sind auch bei einen psychischen Symptom gut, bei einem anderen können sie aber schaden oder im besten Fall nichts ausrichten. Kognitive Aufgaben sind in dissoziativen Zuständen fast nicht zu bewältigen, weil das Gehirn dazu in diesem Moment gar nicht in der Lage ist. Hier helfen vermutlich eher starke olfaktorische, gustatorische oder taktile Reize. Ablenkung ist ganz gut in Anspannungszuständen oder in emotionalen Ausnahmezuständen. Und das Wichtigste: Hab die Tasche immer dabei, denn du weißt ja nicht, wann du Symptome zeigen wirst. Klar, in manchen Kontexten sind sie wahrscheinlicher als in anderen, aber glaube mir, es ist besser, die Tasche 100-mal nicht zu brauchen, sie aber im entscheidenden Moment griffbereit zu haben. Denn so eine Skills-Tasche kann echt hilfreich sein. Am besten probierst du ein bisschen aus, was dir helfen kann. Tipps findest du auch online oder frag doch einfach deinen Therapeuten, der hat sicher eine Idee. Am Ende ist es aber eben immer am besten, auf dich zu hören. Denn keiner kennt dich so gut wie du dich selbst.

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