Hilfe, ich brauche Hilfe!

Beim Selbstverteidigungskurs in der 4. Klasse hat der Typ gesagt, dass wir in einer Notsituation nicht „Hilfe!“ rufen sollen, sondern „Feuer!“, weil die Menschen da eher kommen. Ich denke, diese Verhaltensweise kann man recht gut auf viele Bereiche unserer Gesellschaft übertragen.

Ich bin ziemlich schlecht darin, um Hilfe zu bitten. Gäbe es einen Nobelpreis fürs Aushalten, ich wäre eine heiße Kandidatin dafür. Es geht immer noch ein bisschen mehr, nein, alles gut, ich schaffe das, andere will ich damit nicht belasten und sowieso, die anderen kriegen es doch auch hin. Es gibt diesen magischen Punkt, an dem man um Hilfe bitten sollte. Angeblich. Ich habe den noch nie gesehen. Ist vermutlich so wie der Topf Gold am Ende des Regenbogens. Immer, wenn man denkt, da zu sein, geht immer noch ein bisschen mehr.

Es ist nicht so, als würden andere mir nicht gerne helfen wollen. Ich habe wunderbare Menschen um mich herum, die so einiges für mich tun würden und auch schon einiges getan haben. Aber da ist immer diese leise, meckernde Stimme in meinem Kopf, die flüstert: „Das hättest du jetzt auch alleine machen können, du faule Sau.“

Verdiene ich Hilfe? Vermutlich schon. Sagt mein Therapeut. Und mein Mann. Und so ziemlich alle anderen Lebewesen, die ich danach frage. Nur die Stimme in meinem Kopf, die behauptet das Gegenteil und genau auf die höre ich, denn sie sitzt ja wortwörtlich in mir drin und ich würde mich doch nie selbst belügen, oder?

Um Hilfe zu bitten, hat bei mir immer etwas mit Scham zu tun. Ich bin nicht stark genug, dafür schäme ich mich. Ich kann das nicht alleine, wie so ein kleines Kind, das sich noch nicht selbst die Schnürsenkel binden kann. Aber lustigerweise schämt sich das kleine Kind nicht dafür. Es weiß, dass es manche Dinge eben (noch) nicht kann und das ist in Ordnung so. Bis ein Erwachsener herkommt und sagt: „Du bist doch jetzt wirklich schon alt genug, das alleine zu machen, du bist nur zu faul.“

In meinem Leben haben mir Menschen das ein bisschen zu oft gesagt. Klar, es geht irgendwie darum, ein Kind zur Selbstständigkeit zu erziehen, aber wer erzieht ein Kind eigentlich dazu, auch mal schwach sein zu dürfen? Wer lobt sein Kind dafür, wenn es um Hilfe bittet? „Ich bin so stolz auf dich, dass du deine Grenze erkannt und mich um Hilfe gebeten hast, das hast du großartig gemacht.“ Schon mal gehört? Nein? Eben.

Grenzen. Ich denke, das ist der Punkt, dieser magische Punkt am Ende des Regenbogens, der uns zeigt, dass wir auch mal um Hilfe bitten dürfen. Aber Grenzen sind nicht manifest, sie verschwimmen oder sind dehnbar. In der heutigen Welt sollen wir stets über unsere Grenzen gehen, das sagt uns die Werbung, unser Chef, die Fitnesstrainerin. Immer noch ein bisschen mehr, in etwa so, wie wir mit unserem Planeten umgehen. Grenzen sind nicht festgelegt, wir bestimmen sie selbst und wir sind schwach und inkompetent und des Lebens nicht würdig, wenn wir sie zu früh setzen. Aber wer darf das von außen überhaupt beurteilen? Dürfen wir das selbst? Schon mal gesagt: „Das ist meine Grenze, tut mir leid, mehr mache ich nicht.“ Noch nie? Nein? Eben.

Wir fühlen uns der Welt verpflichtet. Die Kollegin, die uns darum bittet, ihr bei diesem gigantischen Aktenstapel zu helfen, da können wir doch nicht nein sagen. Sie zeigt uns ihre Grenze, das macht sie gut, aber da kann man doch schlecht sagen: „Sorry, nee.“ Naja, eigentlich kann man es schon sagen, aber man will die Kollegin nicht enttäuschen, immerhin bittet sie ja schon um Hilfe, die können wir nicht ausschlagen, auch wenn wir dabei die eigene Grenze in den Boden stampfen – oder ausdehnen. Ein bisschen mehr geht immer.

 Und dann sind wir böse auf die Kollegin, weil SIE UNSERE Grenze überschreitet, aber das tut sie an sich gar nicht, wir überschreiten unsere Grenze. Die Kollegin zeigt nur ihre auf und bittet um Hilfe. Meine Güte, ist das schwer, eigene und fremde Grenzen gleichzeitig zu wahren. Da kann man sich doch eigentlich nur auf eine konzentrieren und weil wir immer noch ein bisschen mehr aushalten, helfen wir lieber der Kollegin. Die könnte ja sonst wütend auf uns werden, weil wir sie alleine lassen, und es ist immer schwerer, negative Gefühle von außen zu ertragen als die eigenen. Mit meinen Dämonen habe ich Übung, mit denen trinke ich Tee, aber wenn andere sauer auf mich sind, da geht die Party erst richtig los. Also lieber die eigene Grenze missachten.

Manchmal denke ich, ich würde nicht einmal die Feuerwehr rufen, wenn ich brennen würde. Es brennt ja vielleicht nur der rechte Arm, so dringend brauche ich den nicht, ich bin ja Linkshänderin, und löschen kann ich ihn vielleicht auch selbst. Man kann immer noch ein bisschen mehr brennen. Dann werde ich wütend auf mich. Ich bin es wert, die Feuerwehr zu rufen, wenn mein rechter Arm brennt. Die werden ja sogar dafür bezahlt, mich zu löschen und vermutlich täten sie es auch gern. Ich bin es wert, um Hilfe zu bitten, wenn mal etwas nicht so klappt, wie ich das gerne hätte.

Es geht nur um diesen magischen Punkt. Mein Therapeut nennt das den „kritischen Punkt“. Auf dem Weg von „Alles okay“ zu „Dissoziation hard“ gibt es zum Beispiel immer diesen Punkt. Auf dem Weg von „Mensch, alles super“ zu „Nervenzusammenbruch für Fortgeschrittene“ auch. Es gibt immer diesen Punkt auf diesem Kontinuum, an dem man noch handeln kann und an dem man handeln sollte.

„Nein, das ist mir zu viel. Ich schaffe das nicht alleine, kannst du mir bitte helfen?“ – manchmal übe ich diese Sätze heimlich und leise mit mir selbst. Wie ein Skript, eine Wenn-Dann-Bedingung. Aber es hilft nichts, das „Dann“ zu kennen, wenn das „Wenn“ fehlt. Oftmals bemerke ich sogar, dass ich den kritischen Punkt erreicht habe. Aber da geht dann eben immer noch ein bisschen mehr.

Ich glaube, das ist der Casus knacksus der ganzen Sache: Dass ich endlich begreife, dass ich nicht mehr aushalten muss. Dass das an sich eigentlich kein Mensch muss. Natürlich, manchmal genieße ich es, meine Grenzen auszudehnen und vielleicht noch 500 Meter weiter zu schwimmen, als ich es geplant habe. Es gibt also eigentlich nicht nur eine Grenze, sondern mehrere - wie die Ringe eines Baums.

Die erste Grenze, die spüren wir eigentlich ganz intuitiv. Wir haben genug Arbeit zu erledigen und da kommt ausgerechnet jetzt die Kollegin und will was von ihrem Stapel abgeben. Erster Gedanke: „Och nö.“ Aber okay, ein paar freie Kapazitäten haben wir noch, eine Überstunde die Woche ist nicht schlimm, das ist die Kollegin uns wert. Dann kommt aber vielleicht noch die Chefin dazu und fragt uns, ob wir Freitag länger machen können, weil es da noch dieses Projekt gibt, das dringend fertigwerden muss. Hier erreichen wir sicherlich die zweite Grenze: „Halt, Stopp!“ Aber weil wir nicht die menschgewordene Faulheit des Büros sein wollen, sagen wir zähneknirschend zu. Dann ruft die beste Freundin an und sagt, dass sie heiraten und unbedingt heute noch Brautkleider anschauen will und wir unbedingt mitkommen müssen. Sie meint es nicht böse, keiner von ihnen meint es böse, aber das ist dann spätestens die dritte Grenze: Es wird körperlich. Wir spannen uns an, werden gedanklich abweisend, bemerken das, halten uns für richtig fies, der besten Freundin absagen zu wollen, denken uns „Ach, das geht noch“ und sagen zu.

Bei dieser Baumringmetapher ist im Innersten dieser Ringe unsere Seele. Da sind wir, der Kern von uns, das, was nicht angegriffen werden sollte. Aber je öfter wir gegen unsere Grenzen „Ja“ sagen, umso näher kommen wir dieser finalen Linie – sie heißt „Selbstaufgabe“. Wenn wir den Punkt erreicht haben, existieren wir nur noch für die anderen. Und das ist nicht gut.

Es müssen nicht mal andere Menschen involviert sein, wenn es um Grenzen geht. Wir selbst neigen ebenfalls dazu, uns heillos zu überladen. Vor der Arbeit meditieren, dann acht Stunden arbeiten, anschließend zum Sport, Hobbys pflegen, Freundschaften, den Urlaub planen, den Haushalt erledigen, dies noch, das noch, ich schaffe das, noch ein bisschen mehr. Und in unserem inneren Baum so: Grenze, Grenze, Grenze, Grenze, Halt stopp, ernsthaft, das ist nicht gut, Grenze, Selbstaufgabe.

In der Traumaklinik habe ich mir das bildlich dargestellt. Ich habe jetzt immer einen Zettel bei mir, auf dem zwei Ringe sind, ein blauer großer und darin ein kleinerer roter. Außenherum ist es grün, da ist alles okay. Zwischen dem blauen und dem roten Ring ist eine Zone namens „Hm.“ Das ist der Bereich, in dem ich die erste Grenze schon übergangen bin, aber doch noch freie Kapazitäten besitze, um handeln zu können. Innerhalb des roten Rings ist die „Nope“-Zone. Hier sage ich kategorisch „Tut mir leid, aber das kann ich nicht.“ Und dann frage ich mich regelmäßig: In welchem Bereich befinde ich mich gerade? Grün (alles okay), blau (sollte nicht zu lange dauern, ist aber in Ordnung) oder rot (auf gar keinen Fall)?

Das hat viel mit Ehrlichkeit mir selbst gegenüber zu tun. Rede ich meine eigenen Grenzen klein oder sehe ich sie so objektiv wie möglich? Denn alle Menschen haben Grenzen, das ist mit einer unserer wichtigsten Instinkte, weil wir gut mit unserer Energie haushalten müssen, um immer noch freie Kapazitäten für Eventualitäten zu haben (wie für die beste Freundin, die sich spontan Brautkleider anschauen möchte).

Um Hilfe zu bitten, um eigene Grenzen zu wahren, braucht es viel Mut. Einigen Menschen, vermutlich dem Großteil unserer Gesellschaft, wurde der ausgeredet. Wir sind es nicht wert, uns um uns selbst zu kümmern und anderen zur Last zu fallen. Aber mal ehrlich, eigentlich ist das doch ausgemachter Blödsinn. Oder um meinen Mann zu zitieren: „Wenn du mich um Hilfe bittest, fühle ich mich gebraucht.“ Andere Menschen helfen uns gerne, es gibt ihnen ein altruistisches Gefühl, sie mögen uns und wollen, dass es uns gut geht.

„Ich brauche Hilfe“ ist die schönste Art, zu sich selbst ehrlich zu sein. Wir haben ein Recht auf Leben, wir haben ein Recht auf Grenzen und wir haben ein Recht darauf, für uns selbst einzustehen. Wir dürfen schwach sein, wobei, was soll das überhaupt sein? Sind wir schwach, wenn wir um Hilfe bitten? Oder sind wir nicht genau in dem Moment viel stärker als sonst?

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