Führerschein mit Dissoziation

Ich habe lange überlegt. Ich habe tatsächlich acht Jahre überlegt, ob ich wirklich einen Führerschein machen will. In der Klinik hatte ich ein Aufklärungsgespräch über Autofahren und Dissoziationen. Am Ende war ich mir fast sicher, dass ich niemals ein Auto selbstständig bewegen werde. Und jetzt ist er da: Führerschein Klasse B. Theorie und Praxis beim ersten Anlauf bestanden, der Fahrlehrer hat noch gesagt, er hatte schon lange keine so gute Prüfungsfahrt mehr. Aber war das klug?

Die Anmeldung zur Fahrschule sah folgendermaßen aus: „Hallo, ich bin die Julia, ich will einen Führerschein Klasse B machen, aber ich habe eine Posttraumatische Belastungsstörung.“ Der Fahrlehrer so: „Alles klar, kriegen wir hin.“

Die Theorie machte ich in einem Zustand, den man wohl „abhängig“ nennen kann. Kurz gesagt, mein Mann hat mich begleitet – zu jeder einzelnen Theoriestunde. Hat ihm aber auch ganz gutgetan, am Ende machte er gleich den Erste Hilfe-Kurs mit und jetzt hat er einen Motorradführerschein, den er eh haben wollte (O-Ton Mann: „Jetzt hab ich eh alle Basis-Theoriestunden und den Erste Hilfe-Kurs, also kann ich auch endlich den Motorradführerschein machen“).

Meine erste Fahrstunde war super. Gut, ich bin auf dem Land aufgewachsen, ich gebe es zu, die Feldwege in meiner Heimat habe ich alle schon ausprobiert. Aber das hier war was anderes. Das hier war ernst. Wobei, auf den Feldwegen konnte kein Fahrlehrer für mich bremsen, in der Fahrschule ist irgendwie alles entspannter. Ausprobieren. So hat es angefangen. Am Ende der ersten Fahrstunde fuhr ich 100 auf der Landstraße und probierte dieses „Rechts vor Links“-Zeugs im Nachbarort aus. Der Fahrlehrer sagte, ich würde den Führerschein schnell haben, ich fahre richtig gut Auto.

Die Theoriestunden fanden zweimal die Woche statt, nach ein paar durfte ich einmal die Woche Auto fahren. Ich büffelte fleißig, stand kurz vor der Prüfung. Dann der Anruf: „Frau F., Sie dürfen nächste Woche in unsere Traumaklinik kommen.“ Ehrlich, ich freute mich, dass ich nach neun Monaten Wartezeit endlich einen Platz ergattern konnte, aber warum denn ausgerechnet jetzt?

Bei der nächsten Theoriestunde beichtete ich dem Fahrlehrer: „Sorry, Prüfung wird aufgeschoben, ich geh in die Klinik.“ Antwort Fahrlehrer: „Hilft ja nix, viel Erfolg da und komm gut wieder zurück!“ Drei Monate Pause. Eine Mitpatientin machte während ihrem Aufenthalt in der Klinik ihren Führerschein. Zweimal die Woche stand das Fahrschulauto vor der Tür, ich wollte jedes Mal einsteigen, „bitte lassen Sie mich auch mal, mir fehlt das!“

Autofahren bedeutet Stress, vor allem als Fahranfänger. Wo kommen plötzlich diese ganzen anderen Leute her, warum ist da schon wieder ein Zebrastreifen, passe ich an dem vorbei, die Straße ist so eng und verdammt, hier war ja Rechts vor Links! Aber Auto bedeutet für mich auch Sicherheit. Es ist eine Erweiterung meiner Komfortzone, ich fühle mich wohl in Autos, meine Familie ist wohl das, was man Vielfahrer nennt, die Verwandtschaft ist über das ganze Land verteilt, da kommt man gut rum. Ich kann im Auto besser schlafen als in meinem Bett – außer als Fahrerin, natürlich.

In der Klinik gab es gleich am ersten Tag das Aufklärungsgespräch. „Sie machen einen Führerschein? Sehr gut, dem steht eigentlich nichts entgegen, aber bitte nicht in einem akuten dissoziativen Zustand.“ Gut, das war mir klar. Aber dann kamen ganz viele neue Symptome ans Licht, die schon länger da sind, aber endlich Namen tragen. Dissoziative Bewegungsstörung, Dissoziativer Stupor, Dissoziative Fugue (vielleicht). Meine Beine zuckten unkontrolliert, tagelang konnte ich nicht richtig laufen, manchmal nicht einmal bewegen. Ich wurde unsicher. So richtig. Führerschein – ist das eine gute Idee?

Als ich wieder nach Hause kam, ging ich drei Tage später in die Fahrschule. Ich wurde herzlichst begrüßt, es konnte endlich weitergehen! Die Theorieprüfung machte ich in der darauffolgenden Woche. Nur hatte ich ein kleines Problem mitgebracht (neben den Symptomen): Schlaftabletten. Ich wurde in der Klinik auf 50 mg Promethazin eingestellt, im Beipackzettel steht, dass ich mir gut überlegen soll, ob ich am Straßenverkehr teilnehmen will. Und genau so sagte ich das auch dem Fahrlehrer. Wir warteten noch eine Woche mit der ersten Fahrstunde nach dem Klinikaufenthalt, in der Zeit lernte ich, wann ich die Tablette nehmen sollte (21 Uhr abends), wie lange ich dann schlafen muss (mindestens acht Stunden), damit ich kognitiv und motorisch voll fit war. Die Fahrstunden waren meistens um 9 Uhr morgens, es gab nie Probleme.

Vor der ersten Fahrstunde nach der Klinik war ich ziemlich aufgeregt. Ich gebe es ehrlich zu, ich bin ein Streber, selbst in der Klinik bin ich dauernd im Kopf durchgegangen, wann man in welchen Gang schaltet, wie man so ein Auto in Bewegung setzt und wie man korrekt auf die Autobahn fährt. Ich bin in Gedanken vor jedem Schlafengehen eine Runde Auto gefahren. Ungefähr so war dann auch die erste Fahrstunde. „Gut, wir melden dich zur Prüfung an, Anfang Dezember, bis dahin kriegen wir das hin.“ Anfang Dezember. Vier Wochen.

Insgesamt hatte ich 25 Fahrstunden, inklusive Sonderfahrten und allem Drum und Dran. Ein paar Mal fuhr mein Mann mit, wir simulierten die Prüfungsfahrt, damit ich mich daran gewöhne, dass jemand auf der Rückbank sitzt (Ja, beim Rückwärtsfahren bin ich trotzdem jedes Mal erschrocken, wenn ich mich umgedreht habe, er war immer so still da hinten). „Du fährst gut“, sagte mein Mann jedes Mal. Selbst bei den für mich richtig schlechten Fahrstunden bestätigte mein Fahrlehrer: „Du bist bereit für die Prüfung.“

In dieser Zeit, in diesen vier Wochen, hatte ich einige dissoziative Zustände. Ich konnte mich plötzlich nicht mehr bewegen, meine Beine zuckten ohne Ende, ich saß abends auf dem Sofa und zergrübelte mir den Kopf, wie ich so bitte eine Kupplung treten soll. Am nächsten Tag bei der Fahrstunde war davon nichts zu spüren. Auto fahren macht mich ruhig.

Ich sollte vielleicht dazuschreiben, dass ich selbstverständlich nie in einem kritischen, emotionalen Zustand hinter dem Steuer saß. Denn ich habe etwas, das ich der Erkrankung verdanke: Ich habe eine ziemlich hohe Gewissenhaftigkeit. Wo andere vielleicht noch sagen: „Ach, das geht noch, so müde bin ich gar nicht“, fahre ich nicht Auto. Ich kann mich realistisch einschätzen und ich erzwinge nichts. Wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht. Das ist nichts Neues für mich.

Aber so ein Auto, das ist schon Freiheit. Gerade jetzt im Winter kann ich alleine zum Supermarkt fahren, zum Arzt im Nachbarort. Ich brauche dafür nicht mehr meinen Mann. Als mein Therapeut mich fragte, wie ich meine Unabhängigkeit vergrößern könnte, antwortete ich lapidar: „Ich mache gerade einen Führerschein.“ Hier auf dem Land ist das ziemlich viel wert.

Da war nur leider diese eine Sache, die ich eigentlich gar nicht kann: Prüfungen. Sowohl die theoretische, als auch die praktische bedeuten für alle Fahrschüler Stress. Ich hatte in der Vergangenheit nur leider die schlechte Angewohnheit, in Prüfungen zu dissoziieren. Prost Mahlzeit, sage ich da. Ehrlich, ich erwartete von der theoretischen Prüfung nicht viel. Bestehen, das wäre toll, aber mehr auch nicht. Ich nahm 100 Prozent Druck heraus, bereitete mich gründlich vor, machte viele Pausen und sagte mir selbst immer: „Wenn’s nichts wird, wird’s halt das nächste Mal, ich will nur schauen.“ Ich bestand mit 0 Fehlerpunkten und ohne jeden Hauch einer Dissoziation. Das war meine erste Prüfung in drei Jahren. Jetzt weiß ich, dass ich es noch kann.

Die praktische Prüfung wurde von mir und meinem Fahrlehrer ziemlich gründlich vorbereitet. Er erklärte mir alles Wochen vorher ausführlich, hielt mich auf dem Laufenden, wer mein Prüfer sein würde („Ach, der ist in Ordnung, mit dem saß ich im Elternbeirat.“), wir übten viel und ich merkte, dass ich es konnte. Die Prüfung selbst war fast schon zu entspannt. Wir fuhren in den Nachbarort, 30er-Zonen, Rechts vor Links, Autobahn, Landstraße, rückwärts einparken, Kreisverkehr, Kreuzungen, Ampeln, wie schaltet man das Fernlicht ein und wo ist der Heckscheibenwischer? Fahrlehrer und Prüfer unterhielten sich die ganze Zeit über Autos und geplante Bauvorhaben unserer Kleinstadt, immer, wenn ich unsicher wurde, machte mein Fahrlehrer einen Scherz und lenkte das Thema von mir ab. Am Ende hatte ich einen Führerschein in der Hand. „Und nie die Brille vergessen“, sagte der Prüfer noch (ich brauche eine zum Fahren), wir lachten alle, am nächsten Tag bestellte ich mir eine Notfallbrille, die ich im Auto deponieren werde – denn ja, gleich bei der zweiten Fahrt vergaß ich natürlich mein Nasenfahrrad, der Mann musste das Steuer übernehmen.

Die erste Zeit ohne Fahrlehrer, mit so einem Führerschein und mit voller Haftung („Wenn was passiert, bin ich am Arsch“), war schon komisch. Die erste Woche fuhr der Mann noch mit, als Backup, wir cruisten nach Regensburg, nach München zum Kieferorthopäden und nach Chemnitz zum Therapeuten. Diese Strecken muss ich selbst können, in meiner ersten Woche fuhr ich fast 500 Kilometer.

Heute war ich zum ersten Mal alleine unterwegs. In die Stadt zum Geschenke kaufen, zur Hausärztin, zur Bank, dann zum Supermarkt auf der anderen Seite. Mittendrin begann es heftig zu schneien, die Kinder hatten gerade Schulschluss und liefen planlos über die Straße. Ich habe es geschafft. Ich habe niemanden überfahren, habe stets ans Blinken und über die Schulter blicken gedacht, bin gut in die Parklücke gekommen, ich kann’s wohl.

Am Anfang war dieser Gedanke gar nicht da. Der Innere Kritiker fährt eben immer mit, jedes Abwürgen wurde hämisch beäugt, jedes „Hm, den hätte ich noch durchlassen können, das war ein bisschen knapp“ und jedes schiefe Einparken. Nach jeder Fahrt sagte ich zu meinem Mann: „Ich bin so eine schlechte Autofahrerin“ und er antwortete: „Du fährst gut Auto, du bist eben noch Fahranfängerin.“ Und tatsächlich lerne ich jetzt vieles, das in der Fahrschule gar nicht vorkam. Das längere Fahren in einer Tiefgarage, das spurtreue Abbiegen in der Großstadt, sowieso vier Fahrstreifen, wenn ich ganz rechts bin und gleich links abbiegen muss. An jeder Erfahrung wachse ich. Und langsam kann ich selbst dem Inneren Kritiker sagen: „Ich fahre gut Auto.“ Oder: Immerhin seit einer Woche unfallfrei.

Ich habe acht Jahre lang überlegt, ob ich wirklich einen Führerschein machen will. Seit meinem achtzehnten Geburtstag war ich mir sicher, dass ich niemals so etwas Komplexes wie Autofahren können werde. Und jetzt kann ich’s halt. Ich fahre bei Schneestürmen alleine Auto, fluche, wenn mir jemand die Vorfahrt nimmt („Hergottsakrament, etzad schleich di!“), bewege mehrere Tonnen weiße Stahlpracht (so was Schönes hat noch niemand zu unserem Auto gesagt). Gut, im Herzen bin ich noch Öko, das Fahrrad wird seinen Dienst noch tun, genauso wie die Füße. Aber mir reicht’s, dass ich weiß, dass ich könnte, wenn ich wollte. Und es manchmal auch einfach mache. Dieses Autofahren. Dieses „Das werde ich nie lernen!“. Dieses Gefühl von Freiheit. Von Unabhängigkeit, das ich wegen der PTBS gar nicht mehr kannte. Dieses Gefühl von Kompetenz und Kontrolle. Und nebenbei hatte ich einfach den coolsten Fahrlehrer der Welt!

P.S.: Es ist übrigens nicht bei jedem mit Dissoziationen sinnvoll, einen Führerschein zu haben. Eine Mitpatientin hatte Autofahrverbot. Deshalb ist es wichtig, immer individuell die Situation zu betrachten und dann zu entscheiden. Ist ja bei körperlichen Erkrankungen (Epilepsie, Narkolepsie etc.) genauso.

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