Trauern nach einem Trauma

Ich erinnere mich gerne zurück an meinen Bezugstherapeuten in der psychosomatischen Klinik, in der ich mich im Jahr 2012 acht Wochen lang meinem Trauma gestellt habe. Viele Dinge, die er damals gesagt hatte, begreife ich jetzt erst. „Julia, du musst trauern“, war einer seiner hartnäckigsten Sätze, die ich nicht verstehen konnte. Warum denn trauern? Es ist doch niemand gestorben. Sieben Jahre habe ich gebraucht, um endlich trauern zu können.

 

Um das, was verloren ging

Es ist schmerzhaft, sich eingestehen zu müssen, dass ein Trauma einem immer auch etwas wegnimmt. Die körperliche Unversehrtheit nach einem schweren Unfall. Die Selbstbestimmung nach Missbrauch. Bei mir ist es die kindliche Unbeschwertheit. Eine Therapeutin, bei der ich ein paar Probesitzungen hatte, sagte nach dem zweiten Treffen zu mir: „Frau F., Sie sind viel zu ernst für Ihr Alter.“ Ich dachte mir, dass man mit 25 Jahren schon ein bisschen erwachsen sein kann, aber das meinte sie nicht. Wenn ich meine Freunde beobachte, meinen Mann sprechen höre, schwingt da eine Unbeschwertheit mit, die ich vor langer Zeit verloren habe und mir langsam und mühsam versuche zurückzuerobern. Frei zu sein von Angst und Unsicherheit ist ein Geschenk, das man mir genommen hat. Ruhiger Schlaf ist noch so eine Sache. Nicht viele Male in der Nacht aufzuwachen, aus Albträumen gerettet oder wegen einem nichtigen Geräusch, ist einer meiner größten Wünsche im Leben. Einfach schlafen zu können. Keine Angst zu haben. Von Menschen nicht von vorne herein das schlechteste zu erwarten. Vertrauen. All das sind Dinge, die ich durch das Trauma verloren habe. Um die ich kämpfe – um die ich aber auch trauere.

 

Um das, was nie war

Ich habe immer von der perfekten Familie geträumt. Meistens habe ich sie mir eingeredet. Es gibt keine Familie ohne Streit und Schwierigkeiten, aber wenn es ganz schlimm war, verbrachte ich ganze Nächte damit, in meinen Träumen die familiäre Sicherheit zu finden, die ich im realen Leben nicht kannte. Nach außen hin, gegenüber Fremden und Freunden, war meine Familie perfekt. Ich habe Dinge erfunden, besonders hervorgehoben und andere gnadenlos verschwiegen. Das war meine Sicherheit. Solange ich es nicht ausspreche, ist es nicht passiert. Aber das ist es und durch Schweigen wurde es nicht besser. Die Wahrheit kickt dir in den Bauch wie ein auskeilender Esel und wenn du nicht „Aua“ sagst, tut es nicht weniger weh. Ein Jahr bin ich jetzt schon dabei, meine eigenen Gedanken und Worte zu hinterfragen. Was erzähle ich und was verschweige ich noch immer? Was hatte ich und was blieb mir verwehrt? Wie waren die Menschen um mich herum wirklich? Wenn ich Außenstehenden von meinem Trauma und den Ursachen berichte, sind sie sprachlos. Nicht, weil es so furchtbar war. Sondern, weil sie nichts davon mitbekommen haben. Zu perfekt war mein Konstrukt aus Verschweigen (von dem, was wichtig war) und Übertreiben (von dem, was schön war). Der Grund dafür war vor allem Scham. Ich fand es fast unerträglich, bei Freunden zu sitzen, ihrem konstruktiven und liebevollem Umgang (ja, auch inklusive Streit) zu folgen und mir so sehr dasselbe zu wünschen, dass es wehtat. Ich suchte nach den Makeln in diesen Familien. Das Kind ist ganz schön frech, das tanzt seinen Eltern ja auf der Nase herum. Die Mutter kann sich gar nicht durchsetzen. Der Vater raucht zu viel. Ich grenzte mich bewusst ab, denn zu schmerzhaft war die Erkenntnis: Das will ich auch – aber ich werde es nie haben. Einen beschützenden großen Bruder. Großeltern, zu denen ich einfach gehen konnte, wenn alles den Bach runter ging. Ruhe und Sicherheit. Ich habe mir eine Traumwelt aufgebaut, die nie existierte. Und um diese Welt trauere ich.

 

Um das, was nie sein wird

Ich habe keine Glaskugel und viel darin sehen könnte ich vermutlich auch nicht. Aber wenn man erst einmal so eine chronische Posttraumatische Belastungsstörung mit komorbiden Folgestörungen hat, wird man sie nie wieder los. Vielleicht wird es irgendwann leichter, vielleicht kann ich irgendwann konstruktiv mit meinen Symptomen umgehen. Aber es gibt Dinge, die ich niemals haben werde. Ein Trauma verändert einen Menschen und das, was nie sein wird, hängt eng mit dem zusammen, was man nie hatte oder was man verloren hat. Ich weiß nicht, ob ich irgendwann Kinder möchte. Ich weiß nicht, ob ich diesen Kindern, sollten sie denn doch irgendwann da sein, gerecht werden kann. Ich weiß nicht, ob ich meine Symptome so weit in den Griff bekommen werde. Ich weiß nicht, was familiäre Sicherheit ist. Wie soll ich es einem kleinen Ich beibringen? Ich werde nie wieder meine Sorglosigkeit finden. Zu einem gewissen Teil vielleicht, aber ich werde immer skeptischer sein als andere. Ich werde immer mehr Angst haben als andere. Ich werde vermutlich nie mein Studium beenden können. Ob ich jemals arbeiten gehen kann, steht in den Sternen (und die kann ich auch nicht deuten, ich bin froh, dass ich den großen Wagen finde). Ich werde mich bei manchen Menschen niemals sicher fühlen. Ich werde nie zu einhundert Prozent vertrauen können. Ich werde nie gesund sein – selbst, wenn die psychische Erkrankung plötzlich verschwindet, werden die körperlichen Folgen bleiben. An schlechten Tagen haut mich das komplett um. Und auch darum trauere ich.

 

Trauern ist kein Selbstmitleid

„Meine Güte, es ist doch vorbei, lass es endlich hinter dir.“

Wie oft hören wir das im Laufe unserer Erkrankungen? Erinnert ihr euch noch an die Wahrheit, die dir wie ein Esel in den Bauch tritt? Der Esel geht danach nicht einfach weg. Er begleitet dich, läuft neben dir und ab und an beißt er dir in die Hand. Das tut nicht einmal weh, das tut jedes Mal weh. Alte Erinnerungen sind genauso schmerzhaft wie aktuelle Erfahrungen, weil das Gehirn genau dasselbe Programm abspielt. Deshalb können wir traumatische und schmerzhafte Dinge nicht einfach hinter uns lassen. Und ganz nebenbei ist es auch nicht schlimm, sich zu erinnern – denn es hilft unserem Kopf, sich zu orientieren. Wir sind zu einem Teil das, was wir erlebt haben. Und niemand erlebt nur schöne Dinge. Trauern ist dabei ein bedeutender Faktor bei der Integration von Erfahrungen. Denn wenn Dinge nicht schön waren, sie einem etwas weggenommen oder nicht zugelassen haben, vielleicht sogar die Zukunft negativ beeinflussen, dann tut das weh und diesen Schmerz müssen wir zeigen und fühlen dürfen.

„Du suhlst dich ja richtig drin, du genießt es doch.“

Welcher Schlag von Mensch denkt eigentlich, dass andere Menschen gerne Schmerzen haben? Gut, das soll es ja auch geben, aber auf lustvolle Art und Weise. Niemand trauert gerne, denn Trauer bedeutet Verlust und verlieren ist für keinen schön. Aber eigentlich sollten wir gerne trauern, denn trauern reinigt. Tränen zum Beispiel spülen überschüssige, schädliche Stresshormone aus unserem Körper. Trauern zeigt unserer Umwelt, dass wir gerade Hilfe brauchen. Ja, wer trauert, möchte vielleicht auch Aufmerksamkeit, aber warum sollte das denn schlecht sein? Wenn ein Kind sich wehtut oder etwas Geliebtes verliert, sucht es nach Menschen und möchte vielleicht sogar eine Umarmung. Nähe. Geborgenheit. Trost. Das Gefühl, dass nicht alles zerbrochen ist, dass die Welt sich weiter bewegt und irgendetwas noch funktioniert. Trauern ist ein natürlicher und sehr logischer Vorgang der Integration von Erfahrungen in unser Langzeitgedächtnis und unsere Identität. Das ist wichtig. Und das braucht eben Zeit. Keine Minuten. Keine Tage. Keine Wochen, sondern Monate und Jahre. Alte Wunden brechen immer wieder auf und tun dann genauso weh. Zeit heilt keine Wunden, sie macht sie nur erträglicher. Und je besser wir uns um unsere Verletzungen kümmern, umso wahrscheinlicher lassen sie uns in Zukunft in Ruhe.

 

Trauern tut weh

Alte Erinnerungen sind genauso schmerzhaft wie aktuelle Erfahrungen, weil das Gehirn genau dasselbe Programm abspielt. Was damals wehgetan hat, tut es heute auch noch. Bei konstruktiver Trauer vermutlich ein bisschen weniger, bei null Prozent Verarbeitung deutlich stärker. Um aber verarbeiten zu können, muss man zulassen – den Schmerz, die Verzweiflung, die Angst, die Wut, den Hass. Das ist verdammt anstrengend und sollte vor allem bei Traumatisierungen nicht alleine angegangen werden. „Ich kann mich nicht erinnern, denn es würde mich zerreißen“, habe ich zu meinem Bezugstherapeuten in der psychosomatischen Klinik gesagt. Er hat es verstanden. Denn manche Erinnerungen haben so eine Wucht, dass sie uns wie eine Tsunamiwelle einfach umreißen. Oder anders gesagt: Der Esel, der dir in den Bauch kickt und in die Hand beißt, hat Freunde mitgebracht. Alleine die Erkenntnis, dass Trauern wehtut und das auch darf, hilft bei der Bewältigung. Durch Schmerz muss gegangen werden, um ihn erträglich zu machen. Aber gerade wenn die Erinnerungen zu stark sind, sollte jemand an deiner Seite stehen und dich auffangen können.

 

Die Sicherheit, trauern zu dürfen

Wieso hat es sieben Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, dass Trauern ein elementarer Faktor bei der Traumabewältigung ist? Wieso kann ich jetzt das tun, was ich so lange unterdrückt habe? Weil ich es jetzt darf. Ich darf meinen Mann anschreien, dass das alles furchtbar unfair war. Ich darf meinen Schmerz spüren. Ich darf ihn zeigen. Ich darf endlich heilen. Ich habe einen ziemlich guten Psychotherapeuten und eine phänomenale Psychiaterin, die mich dabei begleiten und das gröbste abfangen. Ich darf zwei Tage in meinem Bett liegen und weinen. Die Welt verurteilt mich nicht dafür. Ich tue es auch nicht mehr (oder zumindest weniger als damals). Ich habe endlich die Ruhe, auch schwach sein zu dürfen. Und ich habe die Basis, denn alles, was durch das Trauern jetzt bewusst wegfällt, reißt mich nicht mit in den Abgrund. Ich bin in einer glücklichen Beziehung, von der ich auch einmal dachte, sie niemals führen zu dürfen. Ich wohne in einer schönen Wohnung mit großem Garten, um den ich mich kümmern kann und der sich nebenbei auch um mich kümmert. Als ich vor einer Woche einen kleinen Zusammenbruch hatte, habe ich jeden Tag mehrere Stunden Unkraut gezupft und mich neben die Tomatenpflanzen oder unter den Kirschbaum gehockt. Und wenn eine Sache wegfällt, kommt eine neue nach – denn ich habe etwas in mir gefunden, was lange Zeit vergraben war und langsam seine zarten Triebe in Richtung Sonne streckt: Hoffnung. Den Glauben an mich selbst, dass ich schon irgendwie alles hinbekomme, was sich mir in den Weg stellt und dem Masterplan nicht folgt. Und die Gewissheit, dass ich dabei nicht alleine bin. Dass ich sein darf, wie ich bin. Dass ich überhaupt sein darf. Trauern ist immer ein Abschied - aber Abschied macht Platz für Neues.

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