Krankheit als Wettbewerb

„Seid doch froh, dass es nur eine Depression ist. Du hättest ja auch Krebs haben können.“

Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah!!!1!elf!!

Danke, geht wieder. Wieso müssen wir Erkrankungen gegeneinander aufwiegen? Ich habe ein bisschen das Gefühl, dass für manche Menschen die eigene Diagnose für einen klinisch relevanten ICD-Schwanzvergleich herhalten muss und ich verstehe nicht wirklich, wieso das so ist.

Wenn man eine Erkrankung hat, dann ist das schlimm. Gut, eine kleine Erkältung ist schneller auskuriert als eine ALS-Erkrankung (wobei letztere noch immer nicht heilbar ist), aber wollen wir nicht alle mit extremer Schniefnase, dichten Nebenhöhlen und rasselnden Lungen mal eine kleine Pause und ein bisschen Mitgefühl haben? Darf man das bei einer so „kleinen“ Krankheit nicht wollen?

Manchmal überkommt mich die Vorstellung einer Krankheitswertetabelle, in der verschiedene Erkrankungen nach aufsteigender Schlimmheit (ja, das ist kein Wort, weiß ich auch) bewertet werden und bei der in einer Spalte aufgeführt ist, wie stark man bei welcher Erkrankung jammern darf. Wobei man ja in unserer Gesellschaft jede Erkrankung heroisch ertragen muss – nur Kämpfer bleiben im Gedächtnis. Oder habt ihr bei einem Nachruf einer an Krebs verstorbenen Person einmal nicht gelesen: „Hat tapfer gekämpft?“

Ganz unten in dieser Tabelle würden natürlich die psychischen Erkrankungen stehen, wenn sie überhaupt darin vorkommen, denn so eine richtige Erkrankung ist das ja nicht, weil persönlicher Charakterschaden und sowieso selbst schuld. Aber spielen wir das trotzdem mal durch.

Stellen wir uns vor, der Wert einer Erkrankung würde sich nach folgenden Kriterien bemessen: Dauer der Erkrankung, Stärke der Einschränkungen durch die Erkrankung und Wahrscheinlichkeit, an dieser Erkrankung zu versterben. Dann würde ganz oben vermutlich – was ist eigentlich die schlimmste und tödlichste Erkrankung, die es gibt? Vermutlich irgendeine Krebsart. Bauchspeicheldrüse soll fies sein. Oder Nebenschilddrüse.

Ganz oben mit in der Tabelle würde nach diesen Kriterien – Dauer, Einschränkung und Todeswahrscheinlichkeit – aber auch folgende Erkrankung aufgeführt sein: Die Depression. Glauben Sie nicht? Ist aber so. Eine depressive Episode dauert unbehandelt mehrere Monate, die Einschränkungen dabei sind meistens ziemlich stark (bis hin zum Einstellen jeglicher Bewegungen oder der Nahrungsaufnahme) und die Depression ist potentiell tödlich. Mit einer Depression hätte man also rein theoretisch beim ICD-Schwanzvergleich gute Karten. Wäre da nicht die Kategorisierung als psychische Erkrankung. Sie erinnern sich: Persönlicher Charakterschaden und sowieso selbst schuld.

Auch die chronischen Erkrankungen würden vermutlich einen Platz im oberen Drittel dieser Erkrankungswertetabelle erhalten, denn sie dauern sehr lange (meistens ein Leben) und können mit starken Einschränkungen einhergehen. Außerdem sind manche chronischen Erkrankungen auch lebenszeitverkürzend, führen also zu einem früheren Tod als ohne Krankheit. Wie stark einschränkend eine chronische Erkrankung ist, hängt von ihrer Ausprägung ab. Es gibt Menschen mit Morbus Crohn, die kommen nach einer Medikamenteneinstellung ganz gut klar. Es gibt aber auch die Betroffenen, die jahrelang Woche um Woche massiv Gewicht verlieren und/oder irgendwann einen künstlichen Darmausgang benötigen. Wenn man einen Erkrankten kennt, kennt man einen Erkrankten. Alleine deswegen würde so eine Wertetabelle gar keinen Sinn ergeben.

Aber bleiben wir mal dabei (Das ist wie in so einem richtig schlechten wissenschaftlichen Beitrag, in dem man die eigene Hypothese schon im Vorwort widerlegt hat und trotzdem weiter macht). Was ist denn mit chronischen psychischen Erkrankungen? Ja, das gibt es auch. Rezidivierende depressive Episoden gehören dazu, genauso wie die Schizophrenie oder die – Trommelwirbel bitte – chronische Posttraumatische Belastungsstörung.

Es gibt psychische Erkrankungen, die wird man ein Leben lang nicht mehr los. Genauso wie bei chronischen körperlichen Erkrankungen geht es dann vor allem darum, irgendwie damit klarzukommen und den individuell bestmöglichen Weg zu finden. Bei körperlichen Erkrankungen ist uns das meistens recht früh bewusst: Asthma ist chronisch, eine Erkältung ist es nicht. Bei psychischen Erkrankungen tun wir uns bei dieser Einschätzung recht schwer, denn so einfach ist es da auch nicht – denn ein und dieselbe psychische Erkrankung kann akut, aber eben auch chronisch verlaufen.

Nichtsdestotrotz (was für ein Wort) gibt es auch psychische Erkrankungen, bei denen eigentlich von Anfang an klar ist, dass der Kampf dagegen sehr lange andauern und gegebenenfalls niemals beendet sein wird. Der Klassiker hierfür sind Traumafolgestörungen. Wie kann man eigentlich glauben, dass ein Trauma irgendwann wirklich überstanden ist? Klar, es kann gelernt werden, mit den Symptomen umzugehen und vielleicht sind die Reaktionen auf Trigger nach vielen Jahren Therapie nicht mehr so stark – aber die Erkrankung bleibt. Oftmals inklusive der starken Einschränkungen. Ich kämpfe seit über zehn Jahren gegen den Drang an, nie wieder meine Wohnung zu verlassen, von den Albträumen und Dissoziationen mal gar nicht zu sprechen.

Wo also würde die PTBS in der Erkrankungswertetabelle landen? Vermutlich müsste sie zweimal auftauchen oder sogar noch öfter und zwar je nach Ursache und Symptomatik. Ein einmaliges Trauma ist leichter zu verarbeiten als jahrelanger Missbrauch, je länger die Traumatisierung anhält, desto stärker und hartnäckiger sind die Symptome. Gut, das wäre dann wie bei der chronischen Darmerkrankung, die ja auch extrem unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz – oder in die Wertetabelle.

Welche Erkrankung ist jetzt also schlimmer als welche, welche ist gar nicht schlimm und welche am schlimmsten? Und wieso genau ist das jetzt eigentlich wichtig? Warum sagen Menschen Dinge wie: „Sei froh, dass du nicht diese oder jene Erkrankung hast“ oder „Du hast es gut, ich habe das und das und das ist viel schlimmer“ und meinen ihre Aussagen auch noch ernst?

In der Organisationspsychologie nennt man das Fixed Pie-Problem. Darunter versteht man die teils irrationale Angst, dass bei begrenzten Ressourcen diese aufgeteilt werden müssen wie eine schöne Sachertorte. Wenn also die Großtante ein riesen Stück bekommt und auch noch ihren verfressenen Mann mitbringt, fällt die eigene Portion entsprechend klein aus. Bedrohlich und dadurch unangenehm wird das bei lebensnotwendigen Dingen, wie Nahrung, Wasser oder Obdach. Aber was hat das jetzt mit Erkrankungen zu tun?

Unser Gesundheitssystem hat ein Fixed Pie-Problem. Jeder Hausarzt, der sich um Depressionen und Angststörungen kümmert, hat weniger Zeit für die Nachsorge von operierten Krebspatienten, die dann auch noch länger im Wartezimmer sitzen müssen oder erst in vielen Wochen ihre Termine bekommen. Bei psychischen Erkrankungen untereinander ist das fast noch schlimmer. Da wird nämlich schon in „leichte“ und „schwere“ Fälle unterschieden. Klar ist eine chronische Erschöpfungsdepression mit einem GdB von 80 schwieriger in der Behandlung – aber wer will denn dem Menschen, der gerade einen akuten Trauerfall durchmacht und depressive Züge zeigt, was wie gesagt bis hin zur Nahrungsverweigerung führen kann, nicht helfen? Sollte diesem Menschen nicht geholfen werden?

Dafür aber haben wir keinen Platz in den Wartezimmern der Psychotherapiepraxen. Die Sachertorte lässt grüßen. Oder um es mit dem Newton’schen Gesetz zu umschreiben: In einem Behandlungszimmer, in dem ein Patient sitzt, kann kein zweiter Patient sitzen. Das ist aber nicht die Schuld der Betroffenen, sondern des Systems. Weil wir aber dieses System haben, haben wir auch den Wettbewerb. Psychotherapie for the fittest, sozusagen. Und da wird eine psychische Erkrankung ganz schnell von einem anderen Menschen mit psychischer (oder körperlicher oder gar keiner) Erkrankung abgewertet.

Wozu führt das? Person 1 sucht sich keine Hilfe, hält zu lange aus, die Symptome verstärken sich, werden im schlimmsten Fall chronisch oder führen zum Tod. Das ist ein reales Problem. Besonders verachtenswert ist das, wenn Behandler (also Psychotherapeuten, Psychiater oder andere Ärzte) im ersten Gespräch einschätzen, wie stark die Symptome und wie schlimm die Erkrankung ist. „Sie können noch arbeiten? Dann haben Sie hier nichts zu suchen. Sie nehmen anderen nur den Platz weg.“ Da läuft es mir hinten kalt den Rücken runter und vorne kommt die Galle hoch.

Niemand kann nach einem Gespräch von zehn Minuten sagen, wie stark die Symptome sind, zumindest nicht bei psychischen Erkrankungen – denn die allerwenigsten Betroffenen kommen rein mit dem Satz: „Ich kann seit Wochen nicht mehr arbeiten, ich habe massive Schlaf- und Potenzprobleme und nachts kommen die Suizidgedanken, weil ich als Kind schlimme Dinge erfahren habe.“ Den Mut und das Vertrauen muss man nämlich erst mal aufbauen. Und wenn jemand mit diesen Aussagen mit der Tür ins Haus fällt, ist es sowieso wirklich höchste Eisenbahn.

Was aber sollen wir mit den Personen tun, die augenscheinlich noch relativ gut klarkommen? Die vielleicht noch arbeiten gehen, aber dafür eigentlich auch keine Kraft mehr haben und dann zu Hause zusammenbrechen? „Gehen Sie arbeiten?“ – „Ja.“ – „Dann kann’s ja nicht so schlimm sein. Kommen Sie wieder, wenn Sie’s nicht mehr können.“ Ist das die Lösung? Behandeln Ärzte dann auch keine grippalen Infekte mehr, sondern erst die verschleppte Lungenentzündung?

Einen Punkt habe ich noch zum Fixed Pie: Bei einer Erkrankung braucht man viel Unterstützung, egal, ob sie körperlich oder psychisch ist. Viele Betroffene (oder vielleicht sogar alle) haben die Angst, nicht wahr- oder ernstgenommen zu werden und dadurch keine Hilfe zu erfahren. Wenn man sich also die Unterstützung hart erkämpft hat (zum Beispiel am Arbeitsplatz) und da kommt so jemand daher mit seiner Erschöpfungsdepression, entsteht das unangenehme Gefühl, dass die netten Kollegen ihr Mitgefühl ab jetzt aufteilen müssen – und dann weniger für einen selbst bleibt. Das hat mit Egoismus wenig zu tun, sondern eher mit der Notwendigkeit und dem Bedürfnis von Unterstützung. Der andere Kranke nimmt dir etwas weg, im schlimmsten Fall etwas, das du dir hart erkämpfen musstest: Anerkennung und Hilfe. Deswegen kommt schnell der Gedanke: „Der/die/das soll sich gar nicht so anstellen, der/die/das hat ja nur eine Depression.“ Der/die/das braucht aber eben auch Hilfe.

Erkrankungen sind eine denkbar schlechte Grundlage fürs Angeben, denn haben möchte sie niemand. Aber darum geht es eben auch gar nicht. Was als Kleinreden der Probleme anderer wirkt, ist oftmals einfach nur die Angst, mit der einen Erkrankung jetzt hinten anstehen zu müssen und dann entsprechend vielleicht weniger Unterstützung zu erfahren. Das ist menschlich. Klug ist es nicht. Denn jede Erkrankung ist gleich schlimm. Jede Erkrankung fühlt sich, ob akut oder chronisch, furchtbar an. Würde es sich nicht furchtbar anfühlen, wäre es ja keine Erkrankung. Dabei ist das Ausmaß von „furchtbar“ aber subjektiv und individuell. Wie schlimm eine Krankheit ist, weiß immer nur der/die Betroffene selbst. Und das sollte anerkannt werden und mit Mitgefühl einhergehen.

Es gibt keine Wertetabelle für Erkrankungen, weil die absolut überflüssig wäre. Eine Erkrankung ist nicht nur dann schlimm, wenn andere einem das bestätigen, sondern wenn sie sich schlimm anfühlt – also mit einem Leidensdruck einhergeht. Dann muss entsprechend gegengesteuert werden, damit man sich besser fühlt. Ob eine Erkrankung dabei heilbar ist, bleibt zweitrangig. Eine Erkrankung muss man auch nicht heroisch ertragen, weil andere das erwarten, sondern man darf wütend sein und traurig und enttäuscht und verzweifelt. Das bedeutet ja nicht, dass man nicht dagegen kämpft.

Eine Erkrankung ist eine Erkrankung ist eine Erkrankung. Keine Erkrankung ist schlimmer oder wertiger als eine andere und alle sind nervig bis furchtbar. Krebs ist nicht schlimmer als eine Depression und eine Angsterkrankung steht in ihrer Wertigkeit nicht unter oder über einer Blasenentzündung. Letzten Endes haben alle Krankheiten nämlich eins gemeinsam: Sie müssen behandelt werden. Sie müssen genauso wie die Betroffenen respektiert und ernstgenommen werden. Also steckt eure Diagnosen wieder ein und habt einander lieb.

Triggerwarnungen - sinnvoll?

Triggerwarnungen. Ein Thema, bei dem sich die Meinungen in zwei Lager teilen: „Ja, bitte“ und „So ein Quatsch“. Ich persönlich bin tatsächl...