Liebe Angst,
ich hab dich lieb. So lange kennen wir uns nun schon. So oft hast du bereits mein Leben gerettet. Du bist schon ein kleiner, vorsichtiger Kerl. So tief sitzt du in mir und formst meine Umgebung. Du formst mich. Du lässt mich wachsen und hältst mich doch klein. So ein Team sind wir mit der Zeit geworden.
Manchmal nervst du mich. Dann wünsche ich dich bis zum Ende des Universums und eigentlich noch viel weiter. Aber du hast Angst vor dem Fliegen. Deswegen darfst du bleiben. Manchmal will ich dich einfach nur in einem tiefen, dunklen Loch vergraben. Aber du fürchtest die Dunkelheit und Enge magst du auch nicht. Deswegen darfst du bleiben.
Manchmal bist du gut zu mir. Wenn du mich vor hohen Klippen warnst oder mir rätst, doch nicht noch weiter den Baum zu erklimmen. Dann habe ich dich besonders gern. Dann möchte ich dir danken, denn was wäre ich schon ohne dich? Vermutlich tot.
Wir sind zusammen gewachsen. Wenn mir etwas wehtat, hast du dir das ganz genau gemerkt. Du warst immer besonders aufmerksam. Sogar während meinem verdienten Schlaf, wachst du über mich. Du bist diese kleine Stimme in meinem Kopf, mein Jiminy Grille, der mich vor dem ausgefuchsten Bösen warnt.
Liebe Angst, nicht alles auf der Welt ist böse. Ich weiß, wir haben schon sehr viele schlimme Dinge hinter uns und ich bin froh, dass wir das zusammen überstanden haben. Das Leben ist aber doch auch durchzogen von Freude und Neugierde. Ich weiß, dass du dir Sonnenuntergänge lieber vom sicheren Boden aus ansiehst, aber lass uns doch einmal gemeinsam diesen Baum erklimmen, um von oben die beste Aussicht zu haben. Lass uns zusammen dieses Abenteuer wagen, weil ich mit dir sicher bin.
Lass uns zusammen ausprobieren und wachsen. So, wie wir als Kinder waren. Als du noch seltener gesagt hast, dass ich bloß aufpassen soll, und lieber den Spaß hast gewinnen lassen. Ich habe mir zwar öfter die Knie aufgeschlagen, aber das freihändige Fahrradfahren war toll, das musst sogar du zugeben. Wir haben gelacht, weil wir gelernt haben.
Liebe Angst, manchmal hasse ich dich. Ich hasse dann auch mich, weil ich dich in mir wohnen lasse, obwohl du mich so oft zurückhältst und wir ab und an richtig laut streiten. Das passiert immer in den Momenten, wenn ich dir erklären will, dass gar nichts Böses auf uns wartet. Dann machst du dicht und lässt gar nicht mehr mit dir reden. Das macht mich so wütend! Bitte, Angst, lass uns doch endlich einmal wieder sorglos lachen. Du und ich und das Abenteuer.
Liebe Angst, was sind wir nur geworden. Ich hab dich lieb. Wir gehören zusammen, weil ich ohne dich nicht sein kann und du ohne mich auch nicht. Nur manchmal, da will ich lieber nicht auf dich hören. Bitte, verstehe das. Ich habe dich doch deswegen nicht weniger lieb. Und wir werden uns ganz sicher nicht wehtun, also zumindest nicht sehr. Hast du vergessen, was Mama immer zu uns sagte? „Nur durch Hinfallen lernen wir.“ Du fandest doch Mama auch immer so klug.
Jetzt sind wir schon so groß geworden. Erwachsen, möchte man beinahe sagen. Erwachsen werden heißt, dir mehr Raum zu geben. Den darfst du haben. Ich möchte aber auch noch in meiner Seele Platz finden. Das kann ich nicht, wenn du alle Räume für dich beanspruchst. Du hast oft Recht. Manchmal aber, da musst du mir zustimmen. Wie oft ist denn nichts passiert, wenn ich dir widersprochen habe? Eben.
Liebe Angst, ich liebe dich. Du bist einer meiner wichtigsten Ratgeber und du bist ein elementarer Teil meiner Seele. Du gehörst zu dem Kern, den ich mein Selbst nenne. Du darfst gerne in mir wohnen bleiben, bis ich meinen letzten Atemzug tue. Und wenn ich ein letztes Mal meine Augen schließe, wirst du zugeben müssen, dass jeder Moment, in dem ich dir widersprochen habe, den Versuch wert war. Lass uns weiter zusammen wachsen. Ich freue mich darauf.
Deine Julia