Es ist jetzt genau einen Monat her, dass ich das erste Mal offen über meine Probleme gesprochen habe – unter Klarnamen, Menschen gegenüber, die mich kennen. Um ganz genau zu sein habe ich einfach einen Blogeintrag über Studieren mit psychischen Problemen in einer Uni-Gruppe auf Facebook geteilt. Einen Versuch war’s wert. Was ist draus geworden?
Innerhalb von wenigen Minuten hatte ich mehrere Likes und Klicks. Da ich darauf allerdings nicht so viel Wert lege, hier die wichtigere Nachricht: Innerhalb von nicht einmal einer halben Stunde bekam ich fünf Mails. „Ich finde das so mutig von dir!“ oder „Ich selbst leide seit Jahren unter Depressionen und habe es nie jemandem erzählt.“ Messages von Leuten, die ich gut zu kennen glaubte. Von denen ich selbst nie gedacht hätte, dass bei ihnen verwandte Dämonen im Kopf sitzen. Da verstand ich endlich, was ein Coming Out eigentlich bedeutet: Mut machen. Vorleben.
Es war mir plötzlich vollkommen egal, ob jemand das, was ich tat, nicht gut finden könnte. Diese Leute zählten keine Sekunde lang. Trotzdem waren sie da. „Der Blog klingt schon ein bisschen, nimm mir das bitte nicht böse, weinerlich.“ oder „Schöner Blog, aber irgendwie nicht wichtig, oder? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der wirklich hilft.“ oder „Wieso muss eigentlich jeder heutzutage ‘nen eigenen Blog haben?“
Gott sei Dank blieben mir die auf meine Person bezogenen Beleidigungen und Sprüche erspart. Wahrscheinlich waren die Leute so damit beschäftigt, meinen Blog als überflüssig zu bezeichnen, dass sie vollkommen vergaßen, sich über mich auszulassen. Ich bin froh drum. Ob der Blog wirklich überflüssig ist, darf gerne jeder selbst für sich entscheiden. Dafür gibt’s eine einfache Lösung: Klick nicht drauf.
Von den eher positiven Vibes angesteckt, fing ich damit an, Freunden direkte Nachrichten zu schreiben. Also nicht sowas wie „Ich habe Depressionen!“, sondern mehr in die Richtung, die Frage „Wie geht’s dir?“ ehrlich zu beantworten. Da ich ja gerade in Bayern sitze und meine Freunde alle in Chemnitz, sind direkte Kontakte nicht möglich. Sowas wie ein Coming Out via Internet wollte ich eigentlich nicht, aber es war nicht zu vermeiden. Ich wollte ehrlich sein. Hier und jetzt. Auch dazu eine kleine Bilanz.
Freunde sind Menschen, die dich so nehmen, wie du bist. Egal, wie du bist. Wenn sie das nicht tun, sind sie keine Freunde. Trotzdem kann es verdammt wehtun, wenn sie sich von dir abwenden, weil du eben genau so bist, wie du bist. Gott sei Dank ist mir das erspart geblieben. Eine Freundin hat es ganz passend ausgedrückt: „Du bist ja keine andere Person, weil ich jetzt weiß, was dich umtreibt. Du bleibst der gleiche Mensch.“
Eine Freundin hat mir einen halben Herzinfarkt beschert, weil sie zwei Tage lang gar nicht auf meine Nachricht reagiert hat. Sie ist mir extrem wichtig, ich würde sie als meine beste Freundin bezeichnen. Dass sie sich von mir abwenden könnte, hat verdammt wehgetan. Später kam dann raus, dass sie einfach keine Zeit hatte, mir umfangreicher zu antworten und mit einem Wort abblitzen lassen wollte sie mich auch nicht. Herzinfarkt umsonst. Alles super. Gott sei Dank.
Tatsächlich hat sich in meinen Beziehungen gar nichts verändert. Einen Tag später war alles wie zuvor. Klar, es wurden viele Fragen gestellt und das ist gut so. Tatsächlich kam ich mir ziemlich professionell vor, denn ich erklärte gerade angehenden Psychologen, wie sich eine Angststörung wirklich zeigt. Nicht im Lehrbuch. In echt. Sie haben ziemlich interessiert zugehört.
Da ich bisher größtenteils positive Rückmeldungen bekam, wagte ich den nächsten Schritt. Mal wieder ging dieser in Form von Schleichwerbung über Facebook. Ich postete den Artikel direkt auf der offiziellen TU-Chemnitz-Facebook-Gruppe.
Noch mehr Likes, noch mehr Klicks, noch mehr Mails. Teilweise sogar von internationalen Studenten auf Englisch. Noch mehr Balsam für die Seele. Das, was ich tue, ist wichtig. Inzwischen war es mir vollkommen egal, wer alles von meiner Krankheit wusste und erfahren würde. Klar, das Ganze würde sich möglicherweise an der Uni herumsprechen und auch meine alten Dozenten und Chefs erreichen, die nicht so viel mit Social Media anfangen können. Gott sei Dank werde ich mich ja ein halbes Jahr dort nicht blicken lassen (Urlaubssemester). Dann dürfte sich die Geschichte erledigt haben. Alles wird seinen gewohnten Gang gehen.
Was also habe ich am Ende von meinem Coming Out? Sehr viel Druck weniger. Sehr viel Freiheit mehr. Ich stehe deutlich mehr zu mir selbst und bin stolz auf mich. Ich weiß jetzt, dass ich etwas Wichtiges tue, indem ich über mich selbst spreche. Ich inspiriere andere, es mir gleichzutun. Ich selbst habe mich nicht geändert. Meine Dämonen in meinem Kopf haben sich nicht geändert. Aber sie können mich nicht mehr mit folgendem Gedanken erschrecken: „Die anderen könnten merken, dass du anders bist! Das darfst du auf gar keinen Fall zulassen!“ Hier, liebe Angst, mein Mittelfinger, nur für dich.