Als ich in der Klinik war, gab es dort eine Patientin, die panische Angst vor Wildschweinen hatte. Ihre Therapie bestand zu einem Teil daraus, jeden Tag eine halbe Stunde durch den nahegelegenen Wald zu spazieren. Anfangs hatte sie panische Angst, Schweißausbrüche und rannte mehr durch das Gesträuch, als entspannt zu gehen. Die halbe Stunde wirkte unendlich lang. Hinter jeden Knacken im Unterholz vermutete sie eine Rotte Wildschweine, hinter jedem Pfeifen des Windes ihr Grunzen.
Nach und nach ging es ihr besser. Sie ging gerne in den Wald, wusste seine Ruhe und Geborgenheit langsam zu schätzen. Am Ende dachte sie kaum mehr an Wildschweine. Der Wald war nicht nur zu einem Therapeuten, sondern zu einem Freund geworden. Am Ende ihrer Zeit in der Klinik offenbarte ihr der Arzt, dass es in dem Wald gar keine Wildschweine gab. Sie hatte Angst vor etwas, das nicht existierte. Sie bildete sich ein, die Tiere zu hören, sie konnte sie riechen und ab und an sogar sehen. Sie waren nicht da. Ihre Angst hatte ihr das nur eingeredet.
Genau das tut Angst. Sie redet uns ein, dass etwas ganz Schreckliches auf jeden Fall passieren wird und sie lässt uns daran glauben. Alle ihre Argumente klingen so unglaublich logisch und die ganze Welt scheint hineinzupassen. Das ist ihre Masche. Und wir fallen immer wieder darauf rein.
Jetzt ist es logischerweise so, dass die Angst uns braucht. Sie braucht jemanden, dem sie Lügen und Halbwahrheiten einflüstern kann. Das klingt ziemlich gemein und manipulativ. „Ich brauche die Angst nicht“, habe ich mir oft gedacht. Aber das stimmt nicht. Ich brauche Angst. Jeder Mensch braucht Angst. Angst hält uns davon ab, von Klippen zu springen oder mit giftigen Spinnen zu kuscheln. Angst hält uns davon ab, den Kopf in den Rachen eines Löwen zu stecken oder nachts alleine durch dunkle Gassen zu laufen. Angst hält uns am Leben. Ohne Angst wäre der Mensch (und die meisten anderen Arten auch) schon längst ausgestorben.
Wieso aber habe ich eine Angststörung? Wieso habe ich Angst davor, mich vor anderen Menschen zu übergeben, alleine irgendwo umzukippen oder wieso hatte die Frau panische Angst vor Wildschweinen? Wieso haben Menschen Angst vor Fröschen?
Ich kann diese Fragen nicht beantworten (und ich bin mir sicher, dass das keiner wirklich kann). Was ich allerdings für mich akzeptiert habe, ist meine Angst als Freund. Sie weist mich auf Dinge hin, die ich vielleicht sonst nicht sehen würde. Dabei verhält sie sich zwar meistens wie eine Helikoptermutter, ich kann sie aber langsam verstehen.
Meine Angst taucht immer da auf, wo sie Angst davor hat, ich könnte existenziell in Not geraten. Einer Angststörung liegt immer eine tiefere Angst zugrunde. Bei mir ist es die Angst, nicht akzeptiert oder geliebt zu werden. Ich darf auf gar keinen Fall negativ auffallen, ich muss immer in allem die Beste, Witzigste, Klügste oder Schlagfertigste sein. Denn sonst könnten Menschen aufhören, mich als Freundin zu sehen.
Die Angst davor, ausgeschlossen zu werden, ist eine Existenzangst. Der Mensch braucht sozialen Kontakt wie die Luft zum Atmen. Wir brauchen Freunde um uns herum, bei denen wir davon ausgehen können, dass sie für uns da sind. Und wir müssen selbst das Gefühl haben, gebraucht zu werden. Wenn das wegbricht, kann ein Mensch nicht existieren.
Meine Angst kommt also immer da, wo sie befürchtet, es könnte eine Situation geben, durch die ich ausgeschlossen werden könnte. Wenn ich Leuten auf die Schuhe kotze, sind sie nicht begeistert, sondern eher wütend auf mich. Das ist gefährlich, weil es sie dazu bringen könnte, mich auszuschließen oder über mich zu lästern, sodass auch andere von mir Abstand nehmen. Aber so schnell passiert das nicht.
Meine Angst liebt mich. Sie will mich beschützen. Sie macht das allerdings eben immer ein bisschen zu sehr. Also nehme ich sie in den Arm und erkläre ihr, wieso ich jetzt trotzdem zu meinen Freunden nach Hause fahren oder den Vortrag halten werde. Ich erkläre ihr, und damit mir selbst, dass man nicht so schnell von der Gesellschaft ausgestoßen wird. Dass ich Menschen habe, die mich lieben, egal, was ich tue. Und dann fordere ich die Angst dazu auf, mit mir zusammen mutig zu sein, und einfach mal zu schauen, was passiert. Wir sammeln gemeinsam Erfahrungen. Und meistens habe ich Recht, nicht sie.
Meine Angst wird häufig verkörpert durch mein kleines inneres Kind. Das Kind, das Schmerz erfahren hat, das ausgegrenzt und als komisch deklariert wurde. Das Kind, das immer nur dazugehören wollte und eigentlich keine Ahnung hatte, wie man das macht. Diesem Kind erkläre ich, dass wir jetzt erwachsen sind. Ich nehme es in den Arm und tröste es. Damit tröste ich mich selbst. Mein vergangenes Ich.
Die Angst ist wie die kleine Schwester von meinem Freund, die panische Angst vor Achterbahnfahren hatte. Geduld, Liebe, In den Arm nehmen. Immer einen Schritt weiter. Erklären. Rückschritte. Weiter. Dann geht es irgendwann. Die Angst ist dein kleines Kind und du bist die Mutter oder der Vater, die/der ihm die Welt erklärt. „Doch, wir probieren das jetzt mal zusammen.“ Und plötzlich geht es doch. Und es ist super.
Angst ist nicht dein Feind. Sie ist nichts, was du wegbekommen solltest. Angst ist oft lästig und absolut fehl am Platz. Aber sie hat einen Grund. Nicht unbedingt den, dass du auf gar keinen Fall vor deine Haustür gehen sollst, weil auf jeden Fall etwas Schreckliches passieren wird, wenn du es doch tust. Die Angst hat Angst. Nicht du. Erkläre ihr, warum es doch gut ist, rauszugehen. Hör ihren Argumenten zu, aber nimm sie nicht als die deinen an. Schiebe sie auch mal weg, wenn du gerade keine Lust auf Erklären hast. Denn auch wenn es sich häufig so anfühlt, die Angst kontrolliert dich nicht. Sie braucht dich. Und du brauchst sie – aber in einem normalen Maß.