Wie viele andere Patienten habe ich mein erstes Antidepressivum geschluckt, da hatte ich nicht einmal einen Therapieplatz. Immerhin habe ich meine „Glückspillen“ von einem Psychiater verschrieben bekommen. Warum das eher die Ausnahme ist? Ein Großteil der Psychopharmaka wird von Hausärzten verordnet. Von Personen also, die sich zwar mit Tabletten, aber nicht mit der Psyche auskennen. Das ist in etwa so, als würde dir ein Psychiater Kapseln gegen Durchfall verschreiben.
Während dem Gespräch ging es vor allem um die großartige Wirkung von Antidepressiva bei Angststörungen und wie toll ich mich kurz nach der Einnahme fühlen würde. Der Psychiater hat ganz begeistert von den Vorteilen gesprochen und davon, dass ich ja erstmal eine ganz geringe Dosierung verschrieben bekomme und die gar keine Nebenwirkungen haben kann. Ja, so hat er das gesagt. Keine Nebenwirkungen. Klang richtig gut.
Zu Hause habe ich leider den fundamentalen Fehler gemacht, den Beipackzettel zu lesen. Patienten wird ja beinahe schon davon abgeraten, zu viel Angst könnten die Informationen verbreiten. Der Beipackzettel war länger als jeder Deutschaufsatz, den ich jemals geschrieben habe. Eigentlich wollte ich nur nachschauen, ob ich die Tabletten lieber früh oder spät einnehmen sollte (bei den Schilddrüsenmedis, die ich seit 2008 nehme, ist das wichtig). Dann stieß ich auf die möglichen Nebenwirkungen.
Ich sollte die Pillen am besten vor dem Schlafengehen nehmen, weil mit starkem Blutdruckabfall zu rechnen ist. Nicht nur das Hormonsystem, sondern auch das Nervensystem würden stark von dem Mittel beeinflusst werden (Sehr häufig: Sexuelle Funktionsstörungen, Schwindel, Muskelkrämpfe, Tinnitus, Benommenheit etc.). Und was mich am meisten verwundert hat: Auch die Psyche schien anfällig auf das Mittel zu reagieren (Häufig: Halluzinationen, Verwirrtheitszustände, Angstzustände, Schlafstörungen, verstärkte Depression, Alpträume etc.)
Jetzt war ich erstmal ein wenig verunsichert. Der Arzt hatte doch gesagt, es treten bei so geringer Dosierung gar keine Nebenwirkungen auf (Ja, er hat wirklich „gar keine“ gesagt). Ich fühlte mich vom Fachpersonal belogen. Wieso hatte der Psychiater nicht vor den Nebenwirkungen gewarnt, wie es seine Pflicht gewesen wäre? Hätte sich bei mir nur eine einzige Nebenwirkung gezeigt (was auch eingetreten ist), ich hätte ihn wegen Körperverletzung wegen mangelnder Aufklärung anzeigen können.
Vermutlich hatte er lediglich Angst vor einem ganz fiesen Effekt: Dem Nocebo-Effekt. Nocebo ist eigentlich das genaue Gegenteil von Placebo. Mein Prof hat das immer mit einer Art Selbsterfüllenden Prophezeiung erklärt. Wenn ich mit Nebenwirkungen rechne, treten sie auch auf. Das ist blöd. Aber dafür sollte nicht die Aufklärung des Patienten auf der Strecke bleiben.
Da es mir mit den Pillen tatsächlich etwas besser ging (wobei ich inzwischen auch eine Kognitive Verhaltenstherapie angefangen hatte), wollte der Psychiater die Dosis erhöhen. Dann nochmal. Ich verstand das nicht, denn es ging mir ja schon deutlich besser. Also weigerte ich mich beim zweiten Mal. Ich kam mir vor wie „Oh Gott, die Bekloppte verweigert die Einnahme! Schwester, fixieren, bitte!“ Aber ich hielt stand, auch über die ausschweifenden Erklärungen meines Psychiaters hinweg.
Jetzt ist es eigentlich allgemein bekannt (v.a. unter Ärzten sollte es das sein), dass Psychopharmaka harte Nebenwirkungen haben. Ich denke, dass diese allerdings deswegen unterschätzt werden, weil ihr Nutzen überschätzt wird. Klar, klingt doch eigentlich super. Du hast Depressionen oder Angst? Dagegen gibt’s ‘ne Pille. Die schmeißt du dir einmal am Tag ein und sparst dir damit die aufwändige Gesprächstherapie.
Gerade in einer Zeit, in der Therapieplätze Mangelware sind und man ewig auf einen warten muss, bieten sich Pillen als erste Stabilisierung an. Bei starken Störungen, bei denen die Ausgeprägtheit der Symptome derzeit eine Gesprächstherapie nicht möglich sein lassen, ist das sicher auch angebracht. Bei leichteren Störungen allerdings sehe ich keinen Mehrwert. Das ist eine ziemlich miese Kosten-Nutzen-Rechnung. Auf der Kostenseite stehen die teils massiven Nebenwirkungen. Und auf der Nutzenseite?
Mir scheint es, als ob Hausärzte sich schnell dazu verleitet fühlen, den Patienten nicht mit leeren Händen aus dem Sprechzimmer gehen zu lassen. Also werden halt irgendwelche Antidepressiva verschrieben. Ich denke, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass die meisten Hausärzte nicht wissen, wie genau Antidepressiva eigentlich wirken. Kleiner Tipp: Einfach mal den Arzt vor der Einnahme fragen.
Die meisten in Deutschland verschriebenen Antidepressiva gehören zu den SSRI (Selective Serotonine Reuptake Inhibitors, oder auf Deutsch Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer). Mein Prof für Klinische Psychologie hat es mal so erklärt, dass Serotonin aus den Vesikeln eine Synapse nicht wieder von dieser Synapse aufgenommen wird, sondern im Synaptischen Spalt verbleibt. Dadurch steigt die Serotoninkonzentration und das soll bei Depressionen und Angststörungen helfen. Er war im nächsten Satz allerdings sehr ehrlich. Er sagte etwas wie: „Wir haben eigentlich keine Ahnung, wie und wieso das Zeug wirkt. Wir wissen nur, dass es funktioniert und deswegen verschreiben und empfehlen wir es.“ Das ist jetzt schon drei Jahre her und vielleicht weiß die Wissenschaft inzwischen mehr darüber, wie genau Antidepressiva wirken und wieso. Ich kann es mir ehrlich nicht vorstellen. Denn SSRI wirken im Gehirn und das ist selbst kaum in seiner chemischen Komplexität erfasst.
Der größte Krampf kam allerdings bei mir auch erst beim Absetzen, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich wusste schon, dass die Dosierung von Antidepressiva sehr langsam verringert und sie am besten erst nach Monaten ganz abgesetzt werden sollten. Da ich erst in einem halben Jahr einen Termin beim Psychiater bekommen hätte (inzwischen war ich 500 km von meinem alten entfernt wohnhaft), habe ich den dummen Fehler gemacht, es alleine zu versuchen. Schon nach der ersten Dosisverringerung bekam ich Muskelkrämpfe und sogenannte Brain Zips. Was das ist? Eklige Angelegenheit. Bei mir fühlte es sich so an, als bekäme ich spontan einfach mal so Elektroschocks verpasst. Vor dem Fernseher, in der Uni, im Bus. Klatsch! Da war’s wieder. Ich bin dann zu meiner Hausärztin gegangen, weil ich es doch nicht alleine machen wollte. Die hat gesagt, dass das ja ganz normal ist und solange keine weiteren Nebenwirkungen auftreten, kann ich die Tabletten gerne ohne sie absetzen. Genau das habe ich dann auch getan.
Zwei Monate nach Einnahme der letzten halben Pille (zum Glück hatte ich nur die Kinderdosis, sonst hätte das Absetzen womöglich deutlich länger gedauert) hatte ich die letzten Brain Zips. Danach war gar nichts mehr. Außer, dass kurz darauf die Intensität meiner Störungen wieder zunahm. Das ist nämlich das Problem von Antidepris: Einmal abgesetzt, kommen logischerweise auch die Symptome zurück. Gott sei Dank hatte ich dazu ja noch die KVT gemacht, sonst wäre ich eiskalt wieder ins Loch gefallen.
Soll ich also Pillen nehmen, bei denen mein Arzt selbst nicht weiß, wie sie wirken, und bei denen mit teils starken Nebenwirkungen noch beim und nach dem Absetzen zu rechnen ist? Ich denke, das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Ich werde es nicht mehr tun. Denn auch wenn die Tabletten mir möglicherweise helfen würden, wähle ich lieber erst einmal die Gesprächstherapie. Wenn ich einen Platz bekomme.
Von Ärzten würde ich mir wünschen, dass sie aufhören, Antidepressiva so über den Berg zu loben. Sie sind kein Allheilmittel für alle Depressiven und Angstgestörten. Ganz nebenbei ist auch eine genaue Einstellung extrem wichtig. Man kann nicht einfach irgendeine Dosierung verschreiben und dann schauen, wie der Patient reagiert. Eine mögliche Nebenwirkung sind Halluzinationen und eine erhöhte Suizidalität. Wenn der Patient sich wegen den Pillen umgebracht hat, ist es leider zu spät. Die Nebenwirkungen sind also teils massiv und der Patient muss über sie aufgeklärt werden, auch wenn die Gefahr besteht, dass daraufhin die Einnahme verweigert wird. Das nennt man „mündiger Patient“. Ich bin kein Arzt und kann auch keine Empfehlungen aussprechen. Aber ich kann für mich selbst entscheiden, was ich schlucke und was nicht. Und SSRI kommen mir sicher nicht mehr in den Verdauungstrakt.