Eigentlich ist eine psychische Störung nichts Schlimmes. Also, klar, es ist nervig und in manchen Fällen lebensbedrohlich, aber es ist nicht ansteckend. Es ist nichts, wofür man sich schämen sollte. Und doch sprechen so wenige Menschen mit psychischen Problemen über ebendiese. Wieso? Ich sage nur ein Wort: Stigmatisierung.
Bei mir im näheren Umfeld wissen nur meine Eltern, mein Freund, meine Schwester und deren Ehemann wirklich Bescheid. Die anderen ahnen vielleicht etwas, wahrscheinlich aber nicht. Freunde wurden bisher von mir nicht eingeweiht, obwohl ich schon seit Jahren mit mir hadere. „Sie sind deine Freunde“, denke ich mir dann, „Sie werden es schon verstehen.“
Was bedeutet schon Verständnis bei einem Problem, das man selbst nicht hat? Wie werden sie reagieren, wenn ich ihnen von meinen Dämonen erzähle? Davon, wie schrecklich schwer es mir fällt, mich mit ihnen zu treffen und einen unbeschwerten Tag zu haben? Wie werden sie reagieren? Werden sie einen betrübten Blick zeigen? Weinen? Wird es unangenehm oder gar peinlich werden?
Und vor allem: Wie macht man das eigentlich? Soll ich sie zum Essen einladen oder in ein Café? Sollte ich die Depression und Angststörung beiläufig in einem Nebensatz erwähnen? Welche Worte kann ich wählen? Werden sie zuhören? Fragen stellen? Kann ich die überhaupt beantworten? Soll ich es ihnen allein gleichzeitig erzählen oder jedem einzeln? Mit wem fange ich an?
Dann wären dann ja noch die ganzen anderen Menschen auf dieser Welt. Wie viele müssen oder sollten von meinen Problemen wissen? Wie offen soll man mit psychischen Problemen sein? „Geh aus dir heraus und berichte von dir“, sagen sie und wissen gar nicht, was Stigmatisierung bedeutet. Weiß ich es? Immerhin scheine ich ja bisher normal zu sein. Angepasst. Das perfekte Leben.
„Du darfst auf gar keinen Fall von deiner Störung erzählen, sonst bekommst du später keinen Job!“, hat mir mal meine Großtante erzählt. Sie ist Psychologin. Sie weiß es besser. Oder? Will ich überhaupt einen Job haben, in dem ich lügen müsste? Bekomme ich keinen, weil ich offen über mich spreche? Offen spreche über eine Sache, die eigentlich für andere nicht schlimm ist? Nicht ansteckend?
Wie würden die Leute, meine engsten Freunde, reagieren, würde ich ihnen von einer anderen Krankheit berichten? Ist es beim Coming Out bei einer Herzkrankheit oder Diabetes leichter oder schwerer als bei einer psychischen Störung? Ich werde es hoffentlich nie erfahren.
Wie wird es sein, wenn ich „rausgekommen“ bin? Wird mein Leben anders sein? Werden die Leute mir anders begegnen? Sicherlich am Anfang, das ist klar. An alles muss man sich erst einmal gewöhnen. Aber ich kann versichern: Ich bin noch derselbe Mensch, wenn man das überhaupt von sich behaupten kann. Werde ich mich aber mein ganzes Leben lang verstecken müssen, immer einen dicken Schleier legen über meine Depression, die mich schon mit einem schwarzen Schleier zu ersticken droht? Wird es nicht leichter, wenn ich endlich zu mir selbst stehe? Ist es nicht das Problem von den Idioten der Welt, wenn sie es nicht verstehen können oder wollen? Ist es meine Schuld, dass sie so eingeschränkt sind?
Eines Tages werde ich es machen. Ich werde offen über meine psychische Störung sprechen. Nicht hier, nicht auf einem Blog, bei dem nicht ein einziger Name oder ein einziges Bild von mir zu sehen ist. Sondern da draußen. Da draußen, wo ich ein Gesicht habe. Einen Namen. Eine Geschichte. Eine Stimme. Die Leute werden sich wohl oder übel ganz oder gar nicht mit mir auseinandersetzen müssen. Ich habe grüne Augen. Ich habe Schuhgröße 40. Ich habe eine Angststörung.