#einleben - Wie sprechen wir über Suizid?

 Ich möchte heute über ein Thema schreiben, das eigentlich nur dann in den Fokus der Öffentlichkeit gerät, wenn es schon zu spät ist – Suizid. Dieses Thema ist hochemotional und ich möchte von dir, dass du, wenn du in diesem Augenblick instabil bist und mit dem Gedanken spielst, dein Leben zu beenden, diesen Artikel nicht weiterliest, sondern bei der Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111 anrufst oder ihnen unter www.telefonseelsorge.de eine E-Mail schreibst. Wenn du unter 25 Jahre alt bist, kannst du auch U25 Deutschland unter: www.u25-deutschland.de schreiben oder dir bei www.frnd.de Informationen über weitere Beratungsstellen suchen. Es gibt Menschen, die dir helfen wollen und denen du wichtig bist. Das hier ist eine Ausnahmesituation, in der du dich befindest. Es gibt Hilfe. Es gibt einen Weg. Bitte, kämpfe weiter!

 

Suizid, das ist das, worüber man im Stillen trauern muss. Worüber man mit seinen Kollegen und Verwandten nicht offen sprechen darf, weil das Thema zu schambehaftet ist. Suizid, das ist eine Sünde. Suizid, das ist Aufgeben, Feigesein, für das Leben nicht geschaffen zu sein. Aber wir alle sind für das Leben geschaffen. Keiner von uns ist ein Unfall oder unfähig oder sonst irgendwas. Wir alle sind für das Leben gemacht, nur manchmal gibt es Momente im Leben, die viel zu schlimm sind für einen Menschen. Dann brauchen wir Hilfe, um einen Ausweg aus der scheinbar ausweglosen Situation zu finden.

Alle 53 Minuten stirbt ein Mensch in Deutschland durch Suizid. Das sind 27 Suizidtote pro Tag, eine ganze Schulklasse. Im Jahr summiert sich das auf etwa 10.000 Menschen. Auf jeden erfolgreichen Suizid kommen 10 Versuche. Das sind im Jahr über 100.000 Menschen – eine komplette Großstadt. Und niemand darf scheinbar darüber reden. Außer anonym mit einer Beratungsstelle, von denen ein paar oben aufgeführt sind Warum anonym? Weil viele viel zu viel Angst haben.

Fakt ist, dass Suizid noch zu selten thematisiert wird. Wenn es dann doch einmal einen Artikel in der Zeitung gibt, dann handelt der von diesem Promi, der sich das Leben genommen hat. Ach, wie tragisch, ach, wie traurig für die Familie, ach, wie egoistisch den Kindern gegenüber, ach, wie schnell wieder vergessen. Dann liest man in den Kommentarspalten, wie feige und faul und gemein Menschen sind, die Suizid begehen. Und die, die gerade mit ihrem Leben absolut nicht klarkommen, werden noch stummer.

Dabei ist das Wichtigste, was man in diesem Augenblick braucht was? Genau: Unterstützung. Ein offenes Ohr. Das Gefühl, mit diesem Druck, dieser Ohnmacht nicht alleine zu sein. Die Gewissheit, dass diese Dinge endlich ausgesprochen werden dürfen, dass sie ausgesprochen werden müssen, weil sie einen sonst von innen zerfressen. Eine freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung oder eine freundliche Reply auf die E-Mail. „Gib nicht auf. Ich höre dich. Du bist mir wichtig.“

Viele denken, dass das Sprechen über Suizid diesen nur wahrscheinlicher macht, weil der/die Betroffene ja erst richtig darüber nachdenkt und merkt, in welcher Situation er oder sie sich befindet. Aber das stimmt nicht. Alleine zu sein mit diesen Gedanken, das befeuert den Suizidwunsch. Gemeinsam zu kämpfen, eine Schulter zum Anlehnen zu haben, das hilft zu überleben. Also müssen wir darüber sprechen. Denn Suizid ist kein Randthema. Theoretisch kennt jeder jemanden, der sein Leben schon einmal beenden wollte.

Denn wir alle machen schlimme Momente durch. Der Tod eines geliebten Menschen. Eine traumatische Erfahrung (oder viele davon). Unsicherheit, was die Zukunft angeht. Sich selbst verstecken zu müssen, weil man schlechte Erfahrungen damit gemacht hat, man selbst zu sein (wobei es nichts Besseres gibt als dich und zwar so, wie du wirklich bist). Eine schwere Erkrankung. Finanzielle Unsicherheit. Der drohende Jobverlust. Das passiert allen einmal und es ist jedes Mal schrecklich und niemand sollte damit alleine sein.

Menschen, die Suizid begehen oder es versuchen, tun das nicht einmal. Sie tun es oft. Denn ein Suizid ist keine Sache, die man einfach mal so aus Spaß macht. In den allermeisten Fällen steht vor einem Suizid ein langer Leidensweg. 90 Prozent der Menschen, die durch Suizid versterben, litten vorher unter einer psychiatrischen Erkrankung. Depressionen, Borderline, Posttraumatische Belastungsstörung, Schizophrenie. Ausnahmesituationen, in denen die Betroffenen vor allem eins brauchen – Hilfe. Und die doch denken, dass ihnen diese nicht zusteht oder von der sie nicht wissen, wo sie sie erhalten können. Aber: Die wenigsten Menschen, die Suizid begehen wollen, möchten sterben. Sie wollen einfach nur, dass das, was sie gerade zu erdrücken droht, aufhört.

Suizid, das ist langes Leid. Das ist, das Licht am Ende des Tunnels nicht mehr sehen zu können – oder zu hoffen, dass das ein Zug ist. In meiner schlimmsten Zeit lag ich auf dem Sofa und hoffte, endlich sterben zu können. Ich hoffte, eine unheilbare Krankheit zu haben. Ich dachte den ganzen Tag an nichts anderes als daran, wie er am schnellsten vorbeisein könnte. Ich dachte über die schmerzloseste Variante nach, mit der man selbst sein Leben beenden könnte. Mir fiel keine ein. Das war 2011.

Jetzt, acht Jahre, zwei Psychotherapien, einen stationären Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik und zwei Jahre Antidepressiva (die ich nicht mehr nehmen muss, weil ich inzwischen ohne klarkomme) später bin ich froh, es nicht getan zu haben. Ich sitze hier, in meiner wunderschönen Traumwohnung, satt und ausgeschlafen. Mein Mann liegt auf dem Sofa nebenan. Der Mensch, der mich über alles liebt und den ich über alles liebe. Die Sonne scheint durch das Fenster hinter mir, draußen zwitschern die Vögel. Gestern waren wir zusammen schwimmen, ich liebe schwimmen. Bald säen wir die Bienenwiese aus, die wir jedes Jahr erneut anlegen. Mir geht es gut. Natürlich habe ich noch meine Erkrankung, die PTBS streckt mich regelmäßig nieder, aber es ist in Ordnung. Ich habe gelernt, mit ihr umzugehen. Ich habe gelernt, sie nicht als Feind zu sehen, mein Leben nicht als Feind zu sehen, sondern als Chance.

Tu es nicht. Bitte. Egal, wie ausweglos die derzeitige Situation scheint, sie geht vorbei. Mit Hilfe kannst du sie bezwingen. Es klingt platt wie Holz, aber es gibt immer einen Weg. Es gibt immer noch einen Sonnenaufgang, noch einen Menschen, der dich liebt und noch eine Bienenwiese, die es anzulegen gilt. Du bist wertvoll. Ich bin wertvoll. Wir alle sind wertvoll. Und ich weiß, dass ein Anruf bei der Telefonseelsorge nicht alle deine Schwierigkeiten und all dein Leid von jetzt auf gleich verschwinden lässt, aber es ist ein Anfang. Es ist ein Wort gegen das drückende Schweigen. Es ist ein Zeichen von Mut, von Hoffnung. Es ist ein erster Schritt. Und es ist definitiv die bessere Alternative. Was hast du zu verlieren, wenn du dort anonym anrufst?

Ich kenne inzwischen sehr viele Menschen, die suizidal sind oder durch Suizid verstarben. Ich kann nicht für sie sprechen, dafür sind ihre Geschichten viel zu unterschiedlich. Es gibt solche, die trotz engmaschiger Therapie versterben. Und es gibt solche, die alleine aus der Dunkelheit finden. Aber den meisten, die ich kenne, hat Offenheit am meisten geholfen – ein offenes Ohr, eine offene Umarmung, offener Respekt vor ihrer Situation. Wir können nicht alle retten – aber wer sind wir, wenn wir es nicht einmal versuchen?

Suizid ist oft eine endgültige Lösung für ein temporäres Problem. Es ist das eine Thema, über das wir schweigen müssen, weil die Gesunden es nicht hören wollen. Aber wir schweigen nicht mehr. Ich bin Julia. 25 Jahre alt. Ich dachte, nicht einmal meine Volljährigkeit zu erreichen. Ich liebe kochen, schwimmen und schreiben. Ich bin glücklich verheiratet, habe eine tolle Wohnung, finanzielle Sicherheit und habe ab und an Suizidgedanken. Auch heute noch. Was ich dann mache? Ich rufe meinen Mann an. Ich sage „Ist doch alles scheiße, ich wünschte, es wäre vorbei“ und dann drückt er mich fest und bringt mich zum Lachen und dann ist es vorbei – nicht so, wie ich dachte, sondern besser. Dann trinke ich eine warme Tasse Tee und verspreche mir selbst, bis zum nächsten Therapeutentermin zu warten. Wenn ich es danach immer noch will, kann ich es ja immer noch tun. Ich will es fünfzehn Minuten später schon nicht mehr. Endgültige Lösung für ein temporäres Problem.

Suizid, das ist real. Suizid, das ist das, wodurch wir jedes Jahr 10.000 fähige und wertvolle Menschen verlieren. Suizid, das ist das, worüber wir nicht sprechen dürfen, obwohl Sprechen das Einzige ist, was dagegen hilft. Suizid, das ist das, worüber nur berichtet wird, wenn es zu spät ist und jemand seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Suizid, das ist das, wo die Medien ganz unten den obligatorischen Hinweis hinterlassen, dass man bitte bei der Telefonseelsorge anrufen soll, wenn’s einem nicht gut geht und wo leider nicht dran gedacht wird, dass diesen Hinweis kaum einer liest, weil er entweder in Standard-Bla-Bla-Kenn-Ich-Schon-Bringt-Mir-Nichts geschrieben wurde oder, weil der Artikel bereits so getriggert hat, dass die Suizidgedanken schon zu laut sind, um das verstehen zu können. Suizid, das ist das, worüber es angeblich keine Heldengeschichten gibt. Dabei sind die, die überleben und leben wollen, die stärksten Menschen der Welt. Es ist leicht, ganz oben zu stehen und sich darüber zu freuen. Es ist unglaublich standhaft, sich von ganz unten wieder hochzukämpfen, Schritt für Schritt, Rückfall für Rückfall, Hoffnung für Hoffnung. Denen gebührt unser Respekt.

Wir müssen die Art ändern, wie wir über Suizid sprechen. Wir müssen das Stigma von der Stirn suizidaler Menschen entfernen und ihnen eine Hand reichen. Oder beide. Wir müssen ihnen die Möglichkeit bieten, über die schweren Gedanken zu sprechen, bevor es zu spät ist – und zwar nicht auf eine „Ja mei, selber schuld, sie hätten ja drüber reden können“-Art, sondern ehrlich gemeint. Denn dieses Gefühl, das ist zu stark für einen Menschen. Und zwar für jeden Menschen. Es gibt keine Einteilung in stark und schwach, wenn es um Suizid geht, sondern nur in „rechtzeitig“ und „zu spät“. Lasst uns daran arbeiten, dass es nie wieder „zu spät“ ist. Alle 53 Minuten ein Mensch. Am Tag 27. Im Jahr 10.000 Tote. Im Jahr 100.000 Versuche. Es reicht.

 

Quellen und Empfehlungen:

https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/depression-in-verschiedenen-facetten/suizidalitaet

http://www.frnd.de/

https://www.u25-deutschland.de/

https://telefonseelsorge.de/

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