Der Mensch als Blackbox

In der Psychologie, vor allem im Behaviorismus, gibt es das Konzept der Blackbox. Im Großen und Ganzen bedeutet das einfach, dass ein Reiz in die Box reingeht und eine Reaktion herauskommt. Was sich dazwischen abspielt, hat keine Bedeutung und erhält keine Aufmerksamkeit.

Für Außenstehende ist ein Mensch mit psychischer Erkrankung eine Blackbox mit Knacks. Da geht ein Reiz rein und eine Reaktion kommt heraus, wobei die Reaktion absolut seltsam und unpassend für den Reiz wirkt. Wir aber, wir Menschen mit psychischer Erkrankung, kennen das Innere dieser Box – unsere Vergangenheit, unsere Erfahrungen, unsere erlernten Verhaltensmuster, unser kaputtes Hormonsystem. All das können Außenstehende nicht sehen. Und deshalb wirkt unser Verhalten unlogisch.

Ich kann ziemlich gut vorhersagen, in welcher Situation ich wie reagiere. Das können die meisten Menschen, ob gesund oder krank, früher oder später. Klar gibt es viele Trigger, die mir selbst noch unbekannt sind, aber in den meisten Momenten weiß ich einen Bruchteil einer Sekunde vor meiner Reaktion, was mein Körper gleich tun wird. Schweißausbruch bei bestimmten Automarken, Weinen beim Riechen eines bestimmten Parfums, Schlafen mit angeschaltetem Licht. Das alles wirkt von außen seltsam und unbegründet – für mich ist es absolut logisch.

Deshalb würde ich mir wünschen, dass Menschen mit Erkrankung als Experten für sich selbst anerkannt werden. Ich wünsche mir, dass ich keine Sprüche mehr zu hören bekomme à la „Du musst da nur durch“ oder „Probier doch mal dies und das.“ Erstens ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass du mir irgendetwas vorschlägst, das ich nicht bereits versucht habe, zweitens weiß ich vorher bereits ziemlich gut, ob das funktioniert oder komplett in die Hose geht. Meistens geht es in die Hose, wenn ich mich dann doch dazu zwinge, um dir zu zeigen, dass es in die Hose gehen wird, was es dann ja auch tut. Oder so.

Ich wünsche mir, dass wir und unser Verhalten nicht mehr als seltsam, überzogen, überdramatisch, übersensibel oder sogar potentiell gefährlich gesehen wird. Das meiste, was ich tue, ist absolut logisch – vor dem Hintergrund meiner Geschichte. Mein Gehirn reagiert zum Beispiel auf Stress mit Panik. Wieso? Weil Stress für mich meistens bedeutete, gegebenenfalls angegriffen oder verletzt zu werden. Klar reagiere ich da mit Panik. Gut, der meiste Stress bringt mich nicht um, liebes Gehirn, aber wir lernen das schon noch. Bis dahin heißt es für mich weitgehende Vermeidung von extremem Stress und langsame Gewöhnung an geringen Stress (Und wer jetzt denkt: „Sie muss da halt mal durch, Vermeidung kann’s ja auch nicht sein!“ – möge der Blitz dich beim Denken treffen. Warte, dürfte nie passieren).

Wichtig ist es für mich, meine Reaktionen und potentiellen Verhaltensweisen den mir nahestehenden Personen zu erklären. Dann können sie nämlich adäquat darauf reagieren. Mein Mann weiß, was er tun muss, wenn ich Suizidgedanken äußere oder tagelang nicht vom Sofa aufstehen kann. Er weiß theoretisch, was er tun kann, wenn ich dissoziiere – theoretisch, weil ich so kunstvoll dissoziiere, dass man es von außen fast nicht mitbekommt.

Gleichzeitig weiß ich aber auch, was ich selbst tun kann, wenn ich unangenehm auf bestimmte Reize reagiere. Ich führe meine Notfallsachen immer mit mir – Lavendelöl (olfaktorische Reize sind die einzigen, die bei einer Dissoziation ins Bewusstsein dringen, weil sie nicht durch den Thalamus gefiltert werden, sondern direkt ins Riechzentrum gehen), Plüschschaf, Armband, Kopfhörer. Ich weiß, wie ich eine drohende Dissoziation erkennen kann und manchmal kann ich sogar eine verhindern. Ich weiß, wie ich um Hilfe bitten kann, wenn die Panik mir den Hals abschnürt und wenn es mir richtig dreckig geht, wiederhole ich in meinem Kopf meinen Namen und meine Adresse, damit ich diese Dinge gegebenenfalls in einer Dissoziation nicht vergesse.

Ich und meine Posttraumatische Belastungsstörung in Tateinheit mit Depressionen und Angststörungen, wir teilen uns seit über einem Jahrzehnt diesen Körper. Meistens lenke ich, manchmal übernimmt sie das Steuer und ich schalte auf Autopilot. Oft streiten wir über den richtigen Weg, noch öfter muss sie sich damit abfinden, dass ich stärker bin als sie. Ich weiß, wie ich mit ihr umgehen kann. Einiges müssen wir noch lernen, wie den normalen Umgang mit anderen Menschen oder dass Stress halt nicht immer Splatter-Albtraum bedeutet. Aber ganz vieles können wir schon. Ehrlich, früher war ich in einer Dissoziation nicht so handlungsfähig (also nicht bewusst, aber immerhin, oder?). Mein dissoziatives Ich findet in den meisten Fällen inzwischen nach Hause und starrt nicht mehr auf den Unterarm wie ein Zombie, der zu wenig Gehirn gefressen hat. Ich kann außerdem inzwischen kompetent über mich und meine Erkrankung (bin ich jetzt ein Esel oder ist das die korrekte Reihenfolge?) sprechen. Ich kann sagen, was ich brauche, was ich will, was ich kann und was ich vermeiden muss. Apropos Vermeidung, schon mal jemand einem Nussallergiker gesagt, dass er durch den Walnusseisbecher einfach durch muss?

Ja, ich bin allergisch auf Stress. Wenn ich keinen habe, habe ich auch kaum Symptome. Echt jetzt. Es gibt Tage, da merke ich gar nicht, dass ich eigentlich krank bin, weil es keinen Anlass dazu gibt. Das ist ein riesen Fortschritt. Trotzdem behalte ich im Hinterkopf, dass die Symptomatik jederzeit zurückkehren kann. Keiner lebt so sehr im Moment wie ich, wenn ich symptomfrei bin!

Manchmal wünsche ich mir, ich könnte meine Erkrankung Marie Kondo-Style einfach loswerden. Does it spark joy? Hell no. Also weg damit! So ist es nur leider nicht. Ich muss lernen, dass es im Moment einfach Dinge gibt, die mein Leben einschränken. Akzeptiere ich sie? Ja. Finde ich mich damit ab? Hell no! Trotzdem und vor allem, weil ich die Erkrankung schon so lange habe, bin ich ein Experte für sie geworden. Das liegt in meiner Natur. Wenn da etwas ist, das mich nicht mehr loslässt, werde ich neugierig und will es verstehen. Ich verstehe meine Erkrankung. Ich verstehe, warum mein Körper, warum mein Gehirn in manchen Situationen so reagiert, wie es das tut. Das ist in dem Moment auch voll in Ordnung für mich – vordergründig panike ich zwar herum und will nur, dass es aufhört, in meinem Hinterkopf aber habe ich diese Stimme, die professorinnenlike flüstert: „Aha. Angst. Schweißausbruch und Herzrasen hier. Trigger dort. Sehr interessant.“

Jeder Mensch ist eine Blackbox. Vorne kommt ein Reiz rein (das ist jetzt nur bildlich, Reize können auch woanders rein … lassen wir das) und hinten kommt eine Reaktion heraus (same here). In jedem Menschen steckt aber eine Vielzahl an Informationen, Erinnerungen, abgespeicherten Mustern, jeder von uns hat andere Gene, eine andere Persönlichkeit, ein vielleicht nicht ganz so ausgewogenes Hormonsystem. Deshalb sind wir keine Pavlov’schen Hunde. Wir fangen nicht an zu sabbern, wenn uns Futter vorgesetzt wird. Also, rein theoretisch schon (beobachtet mal euren Speichelfluss, das ist total interessant). Vielleicht hatte Pavlov ja auch traumatisierte Hunde, die Futter mit Schlägen verbunden haben und dann für Pavlov ganz komisch reagierten.

Du kannst in meinen Kopf nicht reinschauen (sei froh, so toll ist es da drin wirklich nicht). Was du aber kannst, ist, zu akzeptieren, wie ich reagiere. Du musst es nicht toll finden, oft finde ich es selbst ziemlich doof, aber Akzeptanz und Toleranz kann ich schon erwarten – zumindest dann, wenn ich dir mit meinem Verhalten nicht schade. Jede Verhaltensweise, die wir zeigen, ist auf alles zurückzuführen, was wir bis zu diesem Zeitpunkt getan und erlebt haben. Natürlich fällt das ganz unterschiedlich aus. Ich mit meiner psychischen Erkrankung reagiere oft komisch und scheinbar unlogisch. Aber ich kann dir versichern, mein Gehirn weiß schon ziemlich gut, was es da tut. Neue Verhaltensmuster muss man mühsam lernen. Alte, negative Erfahrungen muss man behutsam mit neuen, positiven überschreiben. Ein über dutzende Jahre traumatisiertes Gehirn hat keinen Anspruch auf normales Verhalten. Es hat gelernt zu überleben – nicht, dir zu gefallen. Also versuch zu verstehen, warum ich meine Reaktionen ausführe. Frag nach, wenn du dir nicht sicher bist. Ich kann dir alles erklären. Nur den Hype um Marie Kondo, den werde ich nie verstehen.

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