Was sind Dissoziationen?

Immer, wenn ich etwas über meine Posttraumatische Belastungsstörung erzähle, kommt früher oder später unweigerlich ein ganz besonderes Symptom zur Sprache – die Dissoziation. Leider (oder zum Glück) können sich die meisten nichts darunter vorstellen. Einmal wurde ich sogar gefragt, ob das etwas mit meinem Sozialverhalten zu tun hat. Eine Dissoziation ist aber nichts dissoziales, sondern betrifft eine ganz andere Thematik. Welche? Gut aufpassen.

Es gibt tatsächlich nicht die eine Dissoziation. Das Symptom ist, wie jedes andere auch, hoch individuell, tritt in unterschiedlichen Situationen in Erscheinung, ist unterschiedlich stark ausgeprägt und taucht natürlich auch nicht bei jeder Traumafolgestörung auf. Es gibt sogar ganz verschiedene Formen der Dissoziation, je nachdem, welche Bereiche sie umfasst und wie die betroffene Person sich dann im dissoziativen Zustand verhält. Was alle Formen gemeinsam haben, ist, dass sie in sogenannten Trigger-Situationen auftauchen. Ein Trigger ist ein Reiz, der zu einer starken psychischen Erregung führt und für den/die Betroffene/n sehr viel Stress bedeutet. Trigger beziehen sich vor allem auf Traumareize, sie erinnern also an die traumatische Situation. Ist der Trigger sehr stark, kann es bei Veranlagung zu einer Dissoziation kommen.

Da gibt es zum einen die sogenannte Dissoziative Identitätsstörung. Diese Erkrankung bringen viele mit Norman Bates in Verbindung und genau so ist sie eigentlich auch – nur, dass die meisten Betroffenen nicht herumrennen und Leute im Namen der eigenen toten Mutter umbringen. Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung sind ganz normale Menschen mit einer Erkrankung. In triggernden Situationen kann es passieren, dass die Betroffenen ihre Identität wechseln. Wieso das passiert? Bei länger andauernden Traumageschichten kann es passieren, dass der/die Betroffene die Identität in Teilidentitäten aufspaltet. Das geschieht vor allem dann, wenn der/die Betroffene beim Tatgeschehen minderjährig ist bzw. war. Diese Abspaltung und das Wechseln der Identitäten ist ein Schutzmechanismus.

Die Teilidentitäten übernehmen je nach Bedarf bzw. Kontext abwechselnd die Kontrolle über das Denken, Fühlen und Verhalten. Manchmal kann es sein, dass die Identitäten nichts voneinander wissen, manche sind einander bekannt. Die Teilidentitäten sind genau das: Verschiedene Identitäten mit verschiedenen Charakterzügen, Verhaltenstendenzen, Wahrnehmungsmustern, Fähigkeiten und Erinnerungen. Sie können sogar im Alter variieren und manchmal haben die Teilidentitäten auch eigene Namen. Der Wechsel ist meistens schleichend, geht allerdings auch häufig mit einem Wechsel der Vorgänge des vegetativen Nervensystems einher (also Blutdruck, Muskelspannung oder sogar die Sehschärfe).

Neben der Dissoziativen Identitätsstörung gibt es noch weitere dissoziative Erkrankungen. Die Dissoziative Fugue äußert sich dadurch, dass Betroffene plötzlich und unerwartet weggehen oder sogar weglaufen. Dabei können sie sich in diesem Moment nicht mehr an die gesamte oder an Teile der eigenen Vergangenheit erinnern. Während dieser Flucht besteht häufig eine Unsicherheit über die eigene Identität. Manchmal nehmen Betroffene während der Fugue auch eine neue Identität an, wobei das eher selten ist. Die Flucht an sich wirkt sehr geordnet und rational, keinesfalls hektisch oder panisch. Eine Fugue kann von wenigen Stunden bis hin zu Wochen oder sogar Monaten dauern. Nach Ende einer Fugue kommen meistens die Erinnerungen an die Vergangenheit wieder zurück – mit Ausnahme der Zeit der Fugue selbst. Hieran können viele Betroffene sich nicht mehr erinnern. Auch eine Dissoziative Fugue ist meistens durch ein Trauma verursacht.

Und dann gibt es natürlich noch die „klassische“ Dissoziation, unter der auch ich in Folge meiner Posttraumatischen Belastungsstörung leide. Bei dieser Form der Dissoziation verliert der/die Betroffene die bewusste Wahrnehmung. Normalerweise leitet der Thalamus alle eingehenden Reize an die zugehörigen Teile der Großhirnrinde weiter – visuelle Informationen wandern bis ganz nach hinten in den visuellen Cortex, Geräusche werden an den auditiven Cortex weitergeleitet, und so weiter. Kommt es jetzt aber wegen einem Trigger zu einer Dissoziation, schottet sich das Gehirn ab. Ich bin während einer Dissoziation also nicht mehr in der Lage, Reize bewusst wahrzunehmen oder selbstständig darauf zu reagieren. Man könnte mir während einer Dissoziation einen Medizinball ins Gesicht klatschen, ich würde nicht mal die Hand heben.

Wie sieht das von außen aus? Vermutlich ist da von harmlos bis gruselig alles dabei. Ich bewege mich zwar noch, allerdings sehe ich dabei eher wie ein Roboter aus. Denn zum einen bewege ich mich eckiger und langsamer als ein Faultier, zum anderen blinzle ich sehr wenig bis gar nicht. Meine Gesichtszüge sind flacher und haben eigentlich gar keinen Ausdruck mehr. Meine Sprache ist verwaschen und monoton, meine Handlungen nur noch responsiv, nicht mehr aktiv.

Den meisten dissoziativen Erkrankungen gemein ist die Dissoziative Amnesie. Darunter versteht man Gedächtnisstörungen beziehungsweise Erinnerungslücken, die über ein normales Maß an Vergesslichkeit weit hinausgehen. Durch eine Dissoziative Amnesie kann man sich nicht mehr an wichtige persönliche Informationen erinnern. Teile der Lebensgeschichte können nicht abgerufen werden. Ich kann mich zum Beispiel nach einer Dissoziation nicht daran erinnern, was ich während der Dissoziation getan habe. Manchmal twittere ich dissoziativ. Dann lese ich mir am Abend meine eigenen Tweets und Kommentare zum ersten Mal durch. Auch Klausuren habe ich größtenteils im dissoziativen Zustand verfasst. Nach jeder Klausur bin ich zu Hause (oder irgendwo) aufgewacht und habe mich gefragt, was ich auf diesen Zettel geschrieben habe, ob ich überhaupt etwas geschrieben habe und wie verdammt ich eigentlich an diesen Ort gekommen bin.

Das ist die größte Gefahr von Dissoziationen. Zum einen fühlt man sich danach wie ausgespuckt und ängstlich, weil man nicht weiß, was man getan hat, zum anderen nehme ich aber im dissoziativen Zustand auch am Straßenverkehr teil (zum Beispiel, wenn ich nach einer Klausur nach Hause fahren möchte), koche mir essen, gehe duschen und meistens lege ich mich irgendwann hin und wache irgendwann wieder auf. Steuern tue ich dabei keine dieser Handlungen. Ich muss also darauf vertrauen, dass die rudimentären Teile meines Gehirns, die während der Dissoziation das Ruder übernommen haben, so klug sind, beim Überqueren einer Straße nach links und rechts zu schauen. Überprüfen kann ich es leider nicht – ich bin ja eigentlich gar nicht dabei.

Der Zeitraum der Amnesien kann wenige Minuten bis mehrere Jahre abdecken. Bei einmaligen Traumatisierungen kann es sein, dass wichtige Teile nicht erinnert werden können. Bei mehrfachen und länger andauernden Traumatisierungen kann es passieren, dass der/die Betroffene sich an die gesamte Kindheit nicht erinnern kann. Auch kleinere, alltägliche Amnesien können auftauchen, wenn der/die Betroffene zum Beispiel sehr viel Stress hat. Auch das ist eine Folge von Traumatisierungen.

Dissoziative Amnesien sind übrigens gegebenenfalls reversibel, das heißt, die Erinnerungen können zurückkommen. Manchmal wird dieser Prozess in der Traumatherapie bewusst angestoßen. Wichtig: Diese Rückerinnerung sollte stets begleitet erfolgen – denn niemand weiß, was da hochkommen kann. Die Fähigkeit des Gehirns, dissoziative Amnesien aufrechtzuerhalten, nimmt im Laufe des Lebens ab, weshalb traumatische Erinnerungen oft im Alter zurückkommen, was zu einer erheblichen Belastung führen kann.

Aber wieso gibt es überhaupt so etwas wie Dissoziationen? Auch hier war unser Gehirn eigentlich mal wieder sehr klug. In traumatischen Situationen ist es für unser Denkorgan beinahe unmöglich, alle Reize adäquat zu verarbeiten. Auf diese Überforderung reagiert das Gehirn mit Abschottung und zwar vollständiger. Das ist die Dissoziation. Da keine Reize mehr verarbeitet werden, kann man sich später auch nicht mehr an sie erinnern. Das ist die Dissoziative Amnesie. In der Überforderungssituation können Anteile von uns übernehmen, die wir als besonders geeignet ansehen, um mit dieser Bedrohung umzugehen. So entsteht eine Dissoziative Identitätsstörung. Die Dissoziative Fugue wird als Reaktion auf eine derzeitige Bedrohung gesehen. Man möchte wortwörtlich aus der Situation heraus, also verlässt man das Gebäude, die Stadt, das Land. Auch hier übernehmen die rudimentären Teile unseres Gehirns.

Leider bekommt man einmal sinnvolle Reaktionen auf traumatische Situationen schwer wieder aus dem Gehirn entfernt. Wenn das nämlich einmal erfolgreich war, wird das Gehirn etwas übermütig. So können auch eigentlich harmlose Situationen, die für Betroffene aber sehr großen Stress bedeuten (Trigger), selbst Jahrzehnte nach einem Trauma noch zu dissoziativen Reaktionen führen. Dissoziationen sind dabei nicht nur unangenehm, sondern können auch gefährlich werden (siehe Straßenverkehr). Deshalb ist es wichtig, damit nicht alleine zu sein.

Auch dissoziative Erkrankungen können behandelt werden, wobei eine Therapie schwierig ist und sich nicht viele Therapeuten an eine so komplexe Störung herantrauen. Wichtig ist es, herauszufinden, in welchen Situationen es zu Dissoziationen kommt. Leider merkt der/die Betroffene meistens nicht wirklich, dass er/sie gerade dissoziiert ist. Deshalb gilt es, Trigger und die Vorboten von Dissoziationen zu erkennen. Ich werde vor einer Dissoziation extrem müde und merke, dass ich nicht mehr klar denken kann. Es fühlt sich ein bisschen an wie eine Überdosis Propofol. Dann muss ich schnell reagieren. Mir persönlich hilft es am meisten, wenn ich mich stark auf nicht triggernde Faktoren meiner derzeitigen Umgebung konzentriere. Ich halte mich wortwörtlich an der Realität fest. Ich zähle Blätter an Zimmerpflanzen, sage mir immer wieder meinen eigenen Namen und meine Adresse vor (in Gedanken natürlich), zähle auf, was ich diese Woche noch erledigen wollte, oder zähle in Siebenerschritten von 100 rückwärts.

Grundsätzlich ist es in einer Therapie von zentraler Bedeutung, nach einer Stabilisierungsphase und nach Erarbeitung dieser Skills auch an das Trauma selbst heranzugehen. So kann man langsam lernen, mit verborgenen Identitäten bei der Dissoziativen Identitätsstörung Kontakt aufzubauen oder sie zum Beispiel Tagebuch schreiben zu lassen (Ja, das geht wirklich). Auch die traumatische Situation selbst kann bearbeitet werden, zum Beispiel durch das Erinnern mithilfe der „Bildschirmtechnik“, also dem Vorstellen des Moments durch Betrachtung von außen, in schwarz-weiß, ohne Ton, Veränderung der Sprechstimmen oder Verändern des Endes durch Imaginieren, wie man sich gewehrt hätte, und so weiter.

Wichtig ist vor allem, Dissoziationen überhaupt erst einmal zu erkennen. Amnesien sollten, sofern sie einem auffallen, ernstgenommen werden. Ansonsten ist das Bemerken ziemlich schwer. Bei mir ist es tatsächlich erst in der psychosomatischen Klinik aufgefallen, weil ich mitten in einer Therapiesitzung plötzlich nur noch gestarrt und auf nichts mehr reagiert habe. Das ist sieben Jahre her. Seitdem kann ich meine Dissoziationen gut erkennen, sie oft sogar verhindern und Trigger bewusst vermeiden. Bis dahin war es aber ein weiter Weg – und den kann man nur gehen, wenn man die Grundproblematik erkannt hat.

Dissoziieren ist wie bewusstlos werden ohne umzukippen. Ich mache meine Schotten dicht, schalte auf Automatik beziehungsweise Notstrom. Das ist gefährlich und ungesund und sollte nach Möglichkeit nicht passieren. Deshalb achte ich sehr auf mich. Ich weiß, wann ich dissoziiere. Ich weiß, wie ich darauf reagieren kann. Und inzwischen passiert es sogar ziemlich selten. Aber wenn es passiert, fühle ich mich auch nach all den Jahren noch ängstlich, überfordert und winzig klein.

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