Ist das jetzt psychisch?

Ich sitze im Sprechzimmer meiner Ärztin. Sie tippt ohne Ende Worte in ihren Computer ein, blickt kurz auf zum Monitor, lässt die Augen dann wieder zur Tastatur schweifen. Ich warte geduldig und wische meine schweißnassen Hände an meinem Schoß ab. Nach einer gefühlten Ewigkeit klickt sie ein letztes Mal, schließt meine Akte auf dem Bildschirm und sieht mich an. „Frau F., ich denke, Ihre Beschwerden sind psychischer Natur.“

Wohlwollend erwidere ich ihren Blick und lächle sanft. „Frau H., bei mir ist alles psychischer Natur. Denn ich bin psychischer Natur.“ Den hat sie jetzt nicht verstanden.

Was sollen denn meine Beschwerden sein, wenn nicht psychisch? Meine Psyche sitzt in meinem Körper, große Teile davon sogar in meinem Gehirn und wollt ihr wissen, was da noch sitzt? Mein Schmerzzentrum. Alles, was ich fühle, ist psychisch. Schmerz. Müdigkeit. Wut. Das alles ist psychischer Natur. Das bedeutet allerdings nicht, dass es da nicht irgendeine organische Ursache für geben kann – mal abgesehen von einer zu laut feuernden Amygdala.

Wegen meiner PTBS habe ich eine chronische Gastritis. Mein Sodbrennen wurde jahrelang auf die Psyche geschoben, bis bei der dritten Magenspiegelung mal herausgefunden wurde, dass Magenein- und -ausgang nicht richtig schließen und ich viele kleine Fistelchen in meiner Speiseröhre habe wachsen lassen wie die Chilipflanzen auf meinem Balkon. Außerdem war da eine ganz fiese Schleimhautentzündung, die ich auch nach monatelanger Einnahme von Säureblockern nicht wegbekommen habe. Ist das psychisch? Ja. Tut’s trotzdem weh und ist gefährlich? Ach, hm, auch eigentlich.

Dann kam mein Lieblingssatz von meinem Lieblingsarzt: „Julia, du musst deinen Stress reduzieren.“ Ich war mir an dieser Stelle nicht sicher, ob ich ihm tief in die Augen blicken und mit noch tieferer Stimme hätte sagen sollen: „Olaf – PTBS.“ Ich kann das nicht einfach runterschrauben. Ich würde gerne. Geht aber nicht. Zumindest habe ich noch keinen Weg gefunden. Ich bin 24/7 auf 180. Klar ist das psychisch. Die Auswirkungen aber sind körperlich. Gastritis. Kopfschmerzen. Darmbeschwerden. Früher Zellverfall wegen zu viel Cortisol im Blut. Hohes Herzinfarkt-, Schlaganfall- und Lungenembolie-Risiko.

Ich mag keine Ärzte, die alles auf die Psyche schieben. Warum? Mir ist damit nicht geholfen. Bei mir ist alles psychisch, inklusive meiner Körperreaktionen, und wenn die zu stark ausfallen, dann tue ich mir ganz physisch weh. Ich sag nur Gastritis. Die Erklärung „Das ist psychisch“ sagt mir nämlich nicht, ob meine Psyche nicht wieder körperliche Auswüchse angenommen hat. Sogar meine Besenreiser sollen psychisch sein!

Ich habe manchmal den Verdacht, dass Ärzte diese Ausrede am liebsten dann benutzen, wenn sie keine Ahnung mehr haben, was sie tun sollen. Das ist okay. Dann sollen sie es aber auch bitte genau so sagen. Ich lag mal mit einer im Krankenhaus, bei der wurden die monatelangen Durchfälle auf die Psyche geschoben. Nach drei Sitzungen beim Psychotherapeuten kam plötzlich raus: Die Arme hatte seit Ewigkeiten einen Bandwurm. Da war wohl die Psycho-Ausrede ein bisschen zu schnell da.

Klar kann die Psyche viele Dinge im Körper anrichten, wie Schmerzen, Verspannungen oder Müdigkeit. Andersherum kann aber auch der Körper die Psyche beeinflussen. Ein Symptom der Schilddrüsenunterfunktion ist, haltet euch fest, Depression. Ich verstehe einfach nicht, warum wir diese beiden Entitäten unserer Existenz strikt voneinander trennen sollten. Die Psyche zeigt sich in ganz physischen Reaktionen, wie Fluchtverhalten oder Erstarrung. Mein Körper hingegen deutet auch mal mit der Psyche darauf hin, dass er erschöpft ist. Dann muss ich nämlich oft ganz psychisch weinen. Die Tränen allerdings kommen aus meinen Augen. Die gelten als Organ, sind also körperlich.

Ich denke, der einzige Grund für die Unterscheidung liegt in der Behandlung. Braucht der Patient Tabletten oder eine Psychotherapie? Oder warte – vielleicht auch beides. Schon mal was von Antidepressiva gehört? Das Zeug wirkt ziemlich physisch, nämlich in unserem Gehirn, und es hilft gegen manche psychischen Beschwerden. Also wieder kein Grund für die Trennung.

Gut, bei meiner PTBS hilft am besten die Psychotherapie. Ich brauche laut meiner Psychiaterin auch keine Tabletten oder Pillen. Also alles ganz psychisch. Wenn ich allerdings zu meinem Arzt hingehe und mit normaler Stimme sage: „Olaf, ich habe seit über einem Jahr saumäßiges Sodbrennen, mag da mal jemand reinschauen?“, dann will ich ernstgenommen werden. Mein Arzt weiß, dass ich psychische Probleme habe, er weiß aber als kluger Mann auch, dass ich trotzdem mal krank werden kann. Oder sogar wegen meiner psychischen Erkrankung.

Psyche ist körperlich und der Körper ist psychisch. Man kann diese Dinge nicht logisch voneinander trennen, noch ist der Versuch zu empfehlen. Die Gastritis ist körperlich psychischen Ursprungs. Die Behandlung erfolgt über Tabletten, die Verhinderung weiterer psychisch verursachter Erkrankungen erfolgt durch Psychotherapie. Wow, jetzt hab ich Kopfweh vom Nachdenken. Ganz physisch in meinem Kopf. Ist das jetzt psychisch?

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