Lass mich doch!

Es ist nicht leicht, psychisch gestört zu sein. Es ist nicht leicht, selbst immer vor Augen zu haben, wie sehr man das eigene Leben doch so oft verschwendet. Es ist am schlimmsten, wenn alle es besser wissen, wie man das Problem lösen sollte. Denn es ist kein Problem. Es ist mein Leben. Also – lass mich doch!

Am tollsten finde ich den Spruch: „Du musst doch keine Angst haben.“ Ach was! Nein? Wirklich?! Oh Gott, wenn ich das früher gewusst hätte! Ich habe keine Angst, weil ich denke, Angst haben zu müssen oder weil ich mir sicher bin, dass die Angst vorteilhaft für mich ist. Ich habe Angst, weil ich Angst habe. Und ich habe gelernt, mit ihr umzugehen, ganz ehrlich, ganz oft. Aber das seht ihr nicht. Ihr bemerkt nicht, wie oft ich jeden Tag kämpfe, um aufzustehen oder vor die Tür zu gehen. Ihr bemerkt es nur, wenn ich es einmal nicht kann. Und dann heißt es, ich muss mich doch nur mal zusammenreißen.

Am besten sollte ich jeden Kampf laut kommentieren. Aber dann würde ich euch ja auch nur nerven. „Du darfst dich da nicht so drin festbeißen“, sagt ihr dann und versteht nicht, dass ich der Angst nicht in den Arsch beiße, sondern sie mir.

Es gibt Tage, da kann ich gar nichts. Es gibt Wochen, da verlasse ich kaum das Haus. Es gibt Jahre, die ich als größtenteils verschwendet sehe. Das zu erkennen, dafür brauche ich euch nicht. Ich brauche eure Ratschläge und gut gemeinten Tipps nicht. Ich brauche eure aufmunternden Worte nicht oder euer „Jeder Tag ist ein Geschenk.“ Ich denke, kaum einer weiß, wie groß das Geschenk wirklich ist. Denn es gibt nichts Schöneres, als ein guter Tag nach tiefer Depression oder Angst.

Es gibt nichts Schöneres, als einen Sonnenuntergang in Südfrankreich mit einem Glas Wein in der Hand. Es gibt nichts Schöneres, als ein Schmetterling, der auf einer Rosenblüte landet und aus ihr trinkt. Ich weiß das. Ich weiß das wohl besser, als viele von euch. Denn ich weiß, wie es ist, alleine in einem Bett zu liegen und sich nicht einmal die Haare kämmen zu können. Ihr müsst mir nicht sagen, wie schön das Leben ist oder was für ein Geschenk jeder Tag. Denn das größte Geschenk für mich ist, den Tag überhaupt erleben zu können. Sich genüsslich die Haare zu kämmen. Gras beim Wachsen zuzuschauen. Alleine die Post holen zu können. Wann habt ihr euch das letzte Mal so über die kleinen Dinge des Alltags gefreut? Also lass mich doch!

Lass mich mein Leben an die Wand fahren, denn es ist meins! Lass mich doch tagelang im Bett liegen und nichts tun, wenn ich meine Ruhe brauche! Lass mich doch traurig und ängstlich sein und lass mich doch manchmal darin versinken! Denn eines kann ich besser als du: Ich komme wieder heraus. Immer wieder. Wann hast du mir das letzte Mal gesagt, wie stolz du auf mich bist, dass ich das schaffe? Also lass mich doch stolz darauf sein, denn du bist es offensichtlich nicht.

Und was brauche ich wirklich? Ich brauche dich. Deine Umarmungen. Dein: „Ist doch alles scheiße heute“. Deine Wärme. Oder deine Abwesenheit. Ich brauche dich, um mir Essen zu kochen, wenn ich es selbst nicht kann. Ich brauche dich, um mit mir rauszugehen, wenn ich jemanden zum Händchenhalten brauche. Ich weiß, dass meine Probleme für dich Peanuts sind und ich nach dir total übertreibe. Aber du hängst nicht in meinem Kopf. Also hör auf, über ihn zu urteilen. Lass mich doch! Lass mich doch mein Leben leben! Ich krieg‘ das schon hin.

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