Ich hatte heute eine unglaubliche Begegnung mit einem bemerkenswerten Menschen. Wer? Eine Arzthelferin in der Praxis meines HNO-Arztes. Während dem Blutabnehmen, bei dem es mir immer ein wenig schwindlig wird, sprachen wir über Phobien. Das Thema bewegte sich langsam in Richtung Therapeutenmangel, um dann beim eigentlichen Höhepunkt anzugelangen: Der Bulimie ihrer Tochter. Der Magersucht der Tochter einer alten Kollegin. Dem Suizidversuch einer Patientin, die in der Praxis drohte, sich umzubringen, weil sie nicht mehr konnte.
Wieso aber ist das überhaupt wichtig? Weil es mal wieder zeigt, wie viele wir sind. Wir sind so unglaublich viele Menschen mit psychischen Problemen. Angststörungen, Depressionen, Bulimie, Anorexie, Borderline, Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen, Belastungsstörungen, Anpassungsstörungen, Manien, ADHS, die Liste ist so vielfältig wie wir selbst. Die Krankheiten betreffen ganz normale Menschen mit ganz normalem Aussehen, ganz normalem Humor, ganz normalen Vorlieben, ganz normalem Sein. Und trotzdem denken wir, wenn es uns selbst betrifft, viel zu oft, wir seien alleine.
Weil wir uns verstecken müssen. Weil wir uns nicht zeigen dürfen mit unserer Einzigartigkeit. Weil wir Angst haben vor Stigmatisierung. Weil wir Angst haben vor Pauschalisierung und Ausgrenzung. Weil wir uns schämen für das, was wir sind. Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, in der ich das muss. Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, in der ich mich verstecken muss wegen dem, was zu mir gehört und was niemandem schadet, außer mir und meinem Umfeld! Meine Angststörung ist nicht ansteckend. Sie ist nicht gefährlich (für dich). Sie ist nicht eklig oder ein Zeichen von Schwäche. Sie ist ein Teil von mir. Ein Teil, ohne den du mich nicht bekommst. Egal, wofür.
Ich habe meine Störung zu Hause. Ich habe sie im Büro. Ich habe sie in der Uni. Ich habe sie im Supermarkt. Ich habe sie im Wartezimmer. Ich habe sie beim Tanzen, Feiern, Sport treiben, im Urlaub, im Kreißsaal, bei meiner Hochzeit und wahrscheinlich auch bei meinem Tod. Und ich bin es leid, sie jeden Tag zu verstecken. Denn sie ist nichts, wofür ich mich schämen muss.
Und doch hatte ich damals, als sie mich zum ersten Mal mit voller Breitseite getroffen hat, keine Ahnung, was das ist und wie ich jetzt damit umgehen soll. Ich wollte sie nicht, ich wollte so sein wie meine Freunde, von denen ich viel später erfuhr, dass einige von ihnen ebenfalls krank waren. Es wurde nie darüber gesprochen. In der Schule hatten wir Aufklärung über so ziemlich alles. Drogen. Alkohol. Kenn dein Limit. Benutze Kondome. Aber was eine Depression ist, mir das zu erklären, dazu hat sich niemand bequemt.
Die Arzthelferin in der HNO-Praxis beschwerte sich beim Blutabnehmen über die klug-dummen Sprüche, die sie zu hören bekam. Magersucht? Gib dem Kind halt was zu essen! Depression? Lach doch mal wieder! Du hast es so gut. Wie können Menschen so grausam sein und trotzdem das Gefühl haben, etwas Gutes zu tun?
Ich habe mich gehasst für meine Krankheit. Ich habe mich vor mir selbst geekelt, wollte sie weghaben, wollte so toll sein wie die anderen. So stark. So mutig. So ganz anders, als ich war. Wieso bringen wir das unseren Kindern bei? Wieso hören wir unseren Müttern nicht zu? Unseren Nachbarn? Freunden? Kollegen? Wieso reden wir ihnen ein, dass sie sich verstecken müssen, obwohl wir ihnen sagen, dass wir sie mögen?
„Mach deinen Blog bloß nicht zu öffentlich oder am besten anonym“, sagen sie und verstehen gar nicht, was das Ziel dieses Blogs ist. Natürlich öffne ich mich, mache mich angreifbar. Aber wenn das gegen mich verwendet wird, wer ist dann wirklich krank im Kopf?
Ich verstecke mich nicht mehr. Ich verstecke nichts, was zu mir selbst gehört wie mein rechter Arm, mein abstehendes linkes Ohr oder meine Schilddrüsenunterfunktion. Ich sehe das nicht ein! Ich weiß, dass das schwer wird (gerade und zum Beispiel bei der Jobsuche). Aber wenn wir nicht endlich damit anfangen, zu uns selbst zu stehen, wird sich niemals etwas ändern. „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt“, sagte Gandhi und meinte sicher nicht nur das Thema Umweltschutz. Sei selbst derjenige, der offen zu seiner Krankheit steht und anderen Betroffenen zuhört. Wir sind nicht alleine. Wir sind so verdammt viele. Und wenn wir endlich damit anfangen, unsere Masken abzulegen, sehen wir das vielleicht auch endlich.
Ich bin Julia. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt. 1,77 m groß, 60 kg leicht. Sternzeichen Löwe, Aszendent Zwilling. Ich habe einen Hund, ein blaues Fahrrad und eine Angststörung. Und das ist verdammt in Ordnung so.