„Du musst schon sagen, dass du krank bist. Ansehen tut man es dir ja nicht.“
Ich wundere mich regelmäßig über diesen Satz. Oftmals wird er nicht einmal ausgesprochen, man wird nur still und leise verurteilt. „Wieso steht die jetzt nicht für die alte Dame auf? Die hat doch gar nichts!“ Dann habe ich nicht mal die Möglichkeit, mich zu verteidigen oder zu erklären.
Manchmal wünsche ich mir ein sichtbares Zeichen. So eine Art Kainsmal der psychischen Erkrankungen, quer über meine Stirn. Dann würde ich nur trotzdem den Satz hören: „Die hat ja gar nichts Richtiges.“ Denn psychische Probleme sind eine Einstellung und Charakterschwäche und niemals eine Krankheit. Wissen wir ja inzwischen alle. Und semikluge Sprüche müsste ich noch häufiger ertragen.
Gibt es eine Erkrankung, körperlich oder seelisch, die man nicht sehen kann? Gehen wir das doch mal durch. Wenn meine Schilddrüse nicht richtig eingestellt ist, habe ich Augenringe aus der Hölle, weil ich extrem müde bin. Menschen mit chronischen Darmerkrankungen gehen öfter auf die Toilette als solche ohne. Menschen mit Fibromyalgie bewegen sich bei Schüben langsamer und vorsichtiger. Selbst meine Kiefergelenksprobleme kann man mir ansehen, einmal dank dem schmerzverzerrten Gesicht, zum anderen dadurch, dass ich dauernd an meiner Kaumuskulatur rumfummele, um sie irgendwie wieder weich zu bekommen.
Bei psychischen Erkrankungen ist es nicht anders. Klar, die Maske sitzt wie bei einer erstklassigen Theaterproduktion am Broadway, aber mal ehrlich, man kriegt es schon mit. Ich habe hunderte Treffen wegen „Bauchweh“ oder „Kopfweh“ abgesagt, mich teils monatelang nicht gemeldet, war dauernd angespannt, fahrig, konzentrationslos und kurz vorm Heulen. Meine Haut war unrein, meine Körperhaltung geduckt, meine Antworten bestanden aus drei Worten. Meine Augen flattern durch meine PTBS hin und her, oder sie stehen komplett still, wenn ich dissoziiere.
Man sieht mir meine Erkrankung schon an. Man sieht jede Erkrankung. Es gibt keine, die man nicht an irgendetwas erkennen kann. Meistens sind die Leute nur zu ignorant, um sich mit anderen so weit auseinanderzusetzen, die Zeichen korrekt deuten zu können. Kein Rollstuhl? Kein Blindenstock? Jup. Gesund. Hä?
Der Wert einer Erkrankung richtet sich nach ihrer Sichtbarkeit. Jemand, der im Rollstuhl sitzt, ist in unserer Gesellschaft kränker als jemand, der wegen Rheuma seine Finger nicht bewegen kann. Die Logik erschließt sich mir selbst nach drei Tassen Grüntee und einer halben Stunde Yoga nicht. Ich kann zwar meine Beine bewegen, aber ich kann nicht vor meine Tür treten, weil ich eine Agoraphobie habe. Sowas nennt man, glaube ich, Ironie des Schicksals.
Trotzdem durfte ich schon hören: „Eine PTBS? Ja, da können Sie doch gar nicht so eingeschränkt sein.“ Achso, kann ich nicht? Na dann, danke für die Erklärung, ab morgen ohne Symptome. Wenn Heilung nur so einfach wäre. Ich habe es satt, dass mir andere vorschreiben wollen, wie ich leide und wie sehr ich das überhaupt darf. Ich kenne meine Erkrankungen seit 10 Jahren. Sie begleiten mich jede Sekunde meines Lebens, sitzen mit mir vor dem Fernseher, sie dürfen sogar im Bett schlafen. Trotzdem wollen mir Leute, die sich nicht einmal fünf Sekunden mit meiner Krankheit auseinandergesetzt haben, erklären, was ich habe und dass ich eigentlich gar nichts habe, weil ich keine sichtbaren Symptome habe. Hallo? Schon mal ne Panikattacke mitbekommen? Die ist schon ziemlich sichtbar.
Jeder Erkrankte ist ein Experte für sich selbst, für seinen Körper und seinen Geist. Jeder Mensch weiß, was er tut und warum er es tut. Und das darf unter keinen Umständen von irgendwem verurteilt werden, der keine Ahnung vom individuellen Schicksal hat. Wenn ich nicht möchte, dass im Bus jemand neben mir sitzt, dann ist das mein Safespace. Das ist mein gutes Recht. Wenn ich mich wegen meiner Psyche krankschreibe, dann ist das mein gutes Recht. Wenn ich wegen meiner PTBS nicht in Vorlesungen gehen kann und zu Hause bleibe, dann ist das mein gutes Recht. Niemand, ich wiederhole, niemand darf das verurteilen.
Man sieht mir meine Erkrankung an. Man sieht jedem seine Erkrankung an. Nur, wenn du dich nach einem „Wie geht’s?“ mit einem „Gut.“ zufriedengibst, obwohl dein Gegenüber aussieht wie gerade aus dem Moor entstiegen, dann ist das dein Problem. Dann kannst du nicht sagen „Ja, man sieht’s halt nicht.“
Und selbst wenn der oder die Betroffene nicht zeigen will, worunter er oder sie leidet, und die Zeichen schwer zu erkennen sind, weil zum Beispiel gerade kein akuter Schub wütet, ist so ein Satz nicht angebracht. Denn was bedeutet denn „nicht sichtbar“? Da ist es ja trotzdem. Die Schmerzen, der Leidensdruck, die Angst. Das verschwindet ja nicht, nur weil es innerlich ausgetragen wird.
Seid lieb zueinander. Ihr wisst nicht, was euer Gegenüber gerade durchmacht. Hört einander zu, beobachtet einander, hört auf euer Gefühl. Es kann sein, dass euer Gesprächspartner gerade den Kampf des Jahres durchsteht. Unsichtbar. Oder zumindest so in etwa.