Emotionaler Missbrauch

Emotionaler Missbrauch – das sind doch nur Worte. Oder? Nein! Emotionaler Missbrauch kann zu ähnlichen Folgen wie anderen Formen des Missbrauchs (sexuell, physisch) führen. Häufig treten die verschiedenen Missbrauchsformen auch bei ein und demselben Kind auf. Eltern schlagen das Kind also nicht nur mit Händen, sondern auch mit Worten und anderen Verhaltensweisen.

Dabei kommt emotionaler Missbrauch verhältnismäßig oft vor. Weltweit werden 36.3 % der Kinder emotional missbraucht (sexuell = 1,6 %, physisch = 8,0 %). Trotzdem wird diese Form des Kindesmissbrauchs noch systematisch ignoriert. Vor Gericht haben Betroffene kaum Chancen. Was ist normaler Umgang in der Familie, wann beginnt emotionaler Missbrauch? Was war ein Scherz, was gezielte Erniedrigung?

Bei emotionalem Missbrauch wird das Opfer gezielt über die Psyche angegriffen. Dabei wird dem oder der Betroffenen oftmals eingeredet, sie sei wertlos oder seine/ihre Gefühle und Wahrnehmungen wären falsch. Das macht diese Form des Missbrauchs so perfide. Betroffene holen sich spät oder gar nicht Hilfe, weil ihnen ausgeredet wurde, dass sie leiden. Außerdem geschieht emotionaler Missbrauch häufig über Jahre hinweg in „kleinen Dosen“, sodass das Opfer kaum eine greifbare Anschuldigung vorbringen kann. Es war ja alles nicht so gemeint.

 

Einige Beispiele für emotionalen Missbrauch sind:

·        Häufiges, lautes, heftiges Streiten (z.B. der Eltern)

·        Erniedrigung und Demütigung des Kindes (auch vor anderen)

·        Witzig machen über das Kind

·        Bedrohung (Gewalt oder Sanktionen)

·        Einschüchterung (z.B. durch Aggression)

·        Fehlende Zuwendung, alleine lassen

·        Bewusster Entzug von Zuneigung und Liebe

·        Systematisches Lügen (ggü. dem Opfer, aber auch Behörden, Eltern, etc.)

·        Ungerechtfertigte, übertriebene Strafen

·        Widersprüchliches Verhalten (Ambivalenz der Beziehung)

·        Übertriebenes Bewachen des Kindes (Helikoptereltern)

·        Psychische Manipulation, Absprechen oder Verbieten von Gefühlen

·        Rollenumkehrung (Parentifizierung, das Kind ist für die Eltern da, nicht umgekehrt)

 

Typische Sätze, die auftauchen:

„Wenn du jetzt nicht aufhörst, hole ich die Polizei und die nimmt dich mit.“ 

„Wegen deinem Wutausbruch stecke ich dich in den Schrank und hole dich erst heraus, wenn du ein braves Kind bist.“

„Oh, muss das kleine Prinzesschen wieder heulen?“

„Wenn du nicht brav bist, kommt das kleine Kinderfressmonster und holt dich.“

„Wenn du jetzt nicht sofort still bist, schlage ich dich tot!“

„Ich wünschte, du würdest heute Nacht sterben. Aber wer weiß? Unfälle passieren. Schlaf schön.“

„Du machst die ganze Familie kaputt. Warum kannst du nicht einfach weglaufen und nie wiederkommen?“

„Es tut mir leid, was für ein schreckliches Kind ich habe. Aber was soll ich machen?“

„Du bist genauso wie deine Oma! Und wie deine Oma wirst du enden!“

„Wieso kannst du nicht ein kleines bisschen so sein wie xyz?“

„Lach doch mal. Du ziehst immer so eine Fresse.“

„Jetzt sei halt nicht so. Das war doch lustig gemeint.“

 

Die Täter

Um diese Form des Missbrauchs ausführen zu können, braucht es eine gewisse Nähe zum Opfer. Täter sind dementsprechend meistens nahe Bezugspersonen (Eltern, Großeltern, Geschwister, Kinder, Partner, etc.). Als Mobbing zeigt sich emotionaler Missbrauch allerdings auch durch andere Personenkreise (Mitschüler, Kollegen, Lehrer, etc.). Häufig wissen oder lernen die Täter, wie sie ihr Opfer gezielt manipulieren können. Die Täter nutzen den Missbrauch, um ihre eigenen Interessen durchzubringen. Dabei rutscht das Opfer automatisch in eine passive Rolle.

 

Folgen

Die Folgen des emotionalen Missbrauchs sind denen der anderen Missbrauchsformen (körperlich, sexuell) relativ ähnlich. Bei Kindern und Jugendlichen kann es zu schweren Entwicklungsstörungen oder -verzögerungen kommen. Außerdem kommt es beinahe zwangsläufig zu Veränderungen der Gehirnaktivität (z.B. hyperreaktive Amygdala, verkleinerter Hippocampus) und der Stressregulation (z.B. Probleme der Hormone, wie Cortisol).

Gerade dann, wenn dem Kind die eigenen Gefühle abgesprochen werden oder es nicht lernt, mit ihnen umzugehen, kann es zu schweren emotionalen Folgen kommen. Als Erwachsener können Betroffene oft ihre eigenen Gefühle nicht richtig einschätzen, haben ständig Druck, sind angespannt oder schreckhaft. Außerdem treten häufig Vertrauensprobleme auf. Als Kind hat der oder die Betroffene gelernt, Menschen und vor allem Bezugspersonen zu fürchten. Ein gesunder Umgang mit Konflikten konnte oftmals nicht erlernt werden. Das kann auch etwaige Beziehungen im späteren Leben stark beeinträchtigen. Durch den erschwerten Umgang mit anderen, kann es auch zu Problemen des Sozialverhaltens, zu Rückzug und Interessensverlust kommen.

Eine logische Folge von emotionalem Missbrauch (genauso wie bei anderen Missbrauchsformen) sind psychische Erkrankungen. Depressionen, Angststörungen, PTBS oder Borderline können dadurch auftreten. Allerdings fehlt dem oder der Betroffenen häufig der Bezug von der Erkrankung zur Ursache. Ihnen wurde so lange ausgeredet, dass irgendetwas falschläuft (außer mit ihnen), sodass auch in therapeutischen Gesprächen das Trauma relativ spät aufgearbeitet wird, bzw. werden kann.

Oft führt emotionaler Missbrauch zu Selbstbestrafung bei dem/der Betroffenen. Ein Teufelskreis aus Selbstsanktionierung beginnt, häufig noch nach Abbruch des Kontakts zum Täter. Das liegt daran, dass der oder die Betroffene gelernt hat, falsch zu sein und deshalb bestraft werden zu müssen. Auch selbstverletzendes Verhalten (z.B. körperliches Verletzen, Entzug von Nahrungsmitteln oder Schlaf, etc.) kann also eine Folge von emotionalem Missbrauch sein.

Betroffene suchen zeitlebens nach ihrer Kindheit und trauern einer Zeit nach, die sie nie hatten beziehungsweise haben durften. Dabei entsteht ein scheinbar unendliches Grübeln darüber, was das Opfer selbst falsch gemacht hat und ob die Täter nicht doch Recht haben. Das Opfer schiebt sich häufig die Schuld zu, weil ihm das so beigebracht wurde. Diesen Kreis zu durchbrechen, ist extrem schwer.

Noch etwas zur Sichtbarkeit von emotionalem Missbrauch: Kinder neigen dazu, körperliche Beschwerden anzugeben, die sie nicht haben, um auf psychische Schmerzen aufmerksam zu machen. So neigte ich dazu, mir die Hand zu verbinden, obwohl sie vollkommen intakt war. Als Kind war mir nicht klar, warum ich das tat, und ich schämte mich fürchterlich dafür. Inzwischen kann ich es verstehen. Mein psychisches Leid konnte ich nicht greifen, also zeigte ich es auf körperliche Art und Weise.

 

Juristisches

Emotionaler Missbrauch an sich ist kein Straftatbestand (wie z.B. sexueller Missbrauch). Allerdings sind es die einzelnen Tatbestände (Bedrohung, Beleidigung, ggf. andere gleichzeitig auftauchende Formen des Missbrauchs) sehr wohl. Bei Kindern und Jugendlichen kann auch die Misshandlung Schutzbefohlener greifen.

Problematisch ist, dass Betroffene zumeist erst sehr spät über ihre Erfahrungen sprechen. Viele wissen nicht einmal, dass es so etwas wie emotionalen Missbrauch überhaupt gibt. Die einzelnen Ereignisse werden systematisch heruntergespielt und als normal angesehen, denn für das Opfer war der Missbrauch „normal“, sprich alltäglich. Dadurch kann es allerdings zu einer Verjährung der Vergehen kommen. Bedrohung zum Beispiel verjährt nach drei Jahren. Bis der oder die Betroffene also alles aufgearbeitet hat und bereit dazu ist, überhaupt über sich zu sprechen, ist den Tätern nichts mehr anzuhaben.

Außerdem ist der Ankläger in der Beweislast. Er muss also glaubhaft darlegen, wie die einzelnen Vergehen stattgefunden haben und ob sie überhaupt passierten. Bei emotionalem Missbrauch im häuslichen Umfeld oder auch bei Mobbing am Arbeitsplatz ist das häufig unmöglich. Natürlich empfiehlt sich die Dokumentation der Ereignisse, das alleine reicht oftmals aber nicht aus. Wie soll ich etwas beweisen, bei dem nur der Täter und ich zugegen waren? Es steht Aussage gegen Aussage. Wenn der Täter darin geübt ist, Menschen zu manipulieren und zu lügen, hat das Opfer vor Gericht selten eine Chance. Das ist extrem frustrierend, aber Tatsache.

 

Hilfe

Kommt es zu Folgeerkrankungen, ist der Gang zum Psychotherapeuten dringlichst zu empfehlen. Auch ein Psychiater kann aufgesucht werden. Vielen Betroffenen fällt es aber schwer, den eigenen Missbrauch anzuerkennen oder darüber zu sprechen. Dementsprechend einfühlsam muss der Therapeut vorgehen, zunächst stabilisieren und nur sehr langsam an die belastenden Ereignisse herantreten. Sonst drohen eine Retraumatisierung und deutliche Verschlechterung des Zustands.

Wichtig ist auch, dass die Gesellschaft endlich offener über diese Form des Missbrauchs spricht, Opfer mehr Unterstützung erfahren und etwaige Fälle früher erkannt und verfolgt werden. Kinder wissen nicht, was mit ihnen passiert, weil sie es oftmals nicht anders kennen. Die Verantwortung liegt also neben der Familie auch bei Lehrern, dem Jugendamt und anderen Institutionen.

Emotionaler Missbrauch ist genauso verheerend wie jede andere Form des Missbrauchs auch. Dem oder der Betroffenen wird systematisch die Psyche zerstört, das Selbstbild, das Selbstwertgefühl. Auch Jahrzehnte später leiden die Betroffenen unter den Folgen, sowohl emotional und psychisch, als auch sozial und körperlich. Emotionaler Missbrauch ist nicht „witzig und ach, nicht so gemeint“, sondern eine massive Verletzung der Integrität des Opfers. Und es wird Zeit, dass wir es endlich auch so nennen.

 

Quellen und Empfehlungen

https://www.selbsthilfehelden.com/emotionaler-missbrauch/

https://www.psychotherapie-golling.de/glossar/emotionaler-missbrauch-muenchen/

https://www.daretobemad.com/emotionalermissbrauch/

Vachon, D.D., Krueger, R.F., Rogosch, F.A., & Cicchetti, D. (2015). Assessment of the Harmful Psychiatric and Behavioral Effects of Different Forms of Child Maltreatment. JAMA Psychiatry, 1135 – 1142. doi: 10.1001/jamapsychiatry.2015.1792.

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