Als ich nach langer Therapie das erste Mal in eine neue Schule ging, erzählte ich einer Mitschülerin, dass ich einige Monate nicht mehr im Unterricht gesessen war.
„Echt, warst du im Ausland, Amerika oder so?“
„Nee, ich war in einer psychosomatischen Klinik.“
Stille. Sehr lange Stille. Unsicheres Lächeln. „Achso.“
Für einen kurzen Augenblick war mir mein Geständnis peinlich. Super, jetzt war ich in der ersten Stunde am ersten Tag schon zum gestörten Schulfreak geworden. Das aber trat nicht ein. An der Schule sprach es sich, glaube ich, nie herum, dass ich psychische Probleme habe. Im Nachhinein ist es mir eigentlich egal, wer davon wusste.
Trotzdem hatte ich Sorge, meine Worte hätten etwas Negatives auslösen können, im schlimmsten Fall die Ausgrenzung aus der Schulgemeinschaft. An der neuen Schule hatte ich noch keine Freunde, es war elementar wichtig, dass ich positiv aufgenommen werde. Da waren die Worte „Ich war in einer psychosomatischen Klinik“ möglicherweise nicht hilfreich. Ich hatte Angst. Wieso eigentlich?
Wieso war es mir unangenehm, zu sagen, dass ich in der Klapse war? Hätte ich erzählt, dass ich im Krankenhaus war, um mir den Blinddarm rausnehmen zu lassen, wäre es mir leichter gefallen. Aber eine Angststörung ist kein Blinddarm, eine Depression kein Hirntumor. Es ist anders, es wird anders aufgenommen und ich verstehe bis heute nicht, warum.
An meinem ersten Tag in der Klink war meine Stimmung auf dem Tiefpunkt. Zum einen musste ich fortan jeden Tag um 06.30 Uhr aufstehen, zum anderen wusste ich schlicht nicht, was mich erwartete. Ich gebe zu, ich hatte ein wenig Bammel vor den anderen Bekloppten. Klar, ich kannte meine Probleme, aber was, wenn die anderen verrückte Massenmörder waren? Fünfzehn Minuten später schämte ich mich für diesen Gedanken. Meine Patin war wie ich. Die anderen waren wie ich. Sie waren anders, als die „da draußen“. Sie waren herzlicher, verständnisvoller und tatsächlich humorvoller. Sie wussten, wie es mir ging und trotz ihrer eigenen Probleme waren sie bereit dazu, mir zuzuhören.
Als mich vor ein paar Tagen eine Freundin fragte, ob ich ihr einen Klinikaufenthalt empfehlen würde, sagte ich ja. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seit Jahren eine Angst- und Panikstörung. Kann ich einen Klinikaufenthalt jedem empfehlen? Nicht wirklich. Auch hier muss man differenzieren und den richtigen Augenblick abpassen. Ansonsten, wieso nicht?
Die acht Wochen Klink waren für mich die wichtigste Zeit meines Lebens. Aus dem Hamsterrad des Alltags entkommen, konnte ich mich endlich selbst kennenlernen. Meine Diagnose wurde korrigiert, die Therapie angepasst. Außerdem hatte die Klinik eine kürzere Wartezeit als die Therapeuten hier im Umkreis.
Ich lernte die „Therapeutische Gemeinschaft“ kennen und schätzen, stand zum ersten Mal für mich selbst ein und lernte, was ich wert war. Ich erarbeitete mir Werkzeuge, mit denen ich meinen Dämonen begegnen konnte. Meine Lichtschwerter gegen die Dunkelheit. Das alles geschah in acht Wochen, an deren Anfang ich Angst vor verrückten Massenmördern hier drin und Stigmatisierung da draußen hatte.
Die Zeit nach der Klinik war hart. Das Erlernte auf den Alltag zu übertragen, hat gefühlt ewig gedauert, es hat sich aber gelohnt. Hilfreich war vor allem, dass ich direkt aus der Klinik in eine ambulante Therapie überging. Ich zog aus meinem Elternhaus aus in eine fremde Stadt, besuchte eine neue Schule, fand einen neuen Freundeskreis. Das war verdammt hart, ins kalte Wasser zu springen und oft genug wollte ich einfach aufgeben. Aber jeden Tag war es mir klar, das alles war es wert. Auch, wenn ich mich bis heute nicht wirklich sesshaft fühle und noch nicht so ganz weiß, wo ich eigentlich hingehöre, weiß ich, wer ich bin und was ich brauche. Ich fürchte mich nicht mehr davor, für mich selbst einzustehen. Egal, wo ich lande, ich nehme mich immer mit. Und dank meiner Liebe zu mir selbst will ich das auch gar nicht anders. Diese Liebe habe ich in der Klinik gelernt.
Menschen mit psychischen Problemen haben häufig Angst davor, sich in stationäre Behandlung zu begeben. Sie fürchten sich davor, als „bekloppt“ zu gelten. Dabei macht sie die Klinik gar nicht krank, sondern im besten Fall ganz oder zu Teilen gesund (wenn man das überhaupt sagen kann). Die Angst vor Kliniken basiert also auf zwei Fundamenten: Der Angst vor dem Unbekannten (weil kaum jemand ehrlich über seine Zeit in stationärer Behandlung berichtet) und die Angst vor Stigmatisierung (weil kaum jemand ehrlich über seine Zeit in stationärer Behandlung berichtet).
Was es also braucht, sind mehr Menschen, die reden, und mehr Menschen, die fragen. Die Schulkameradin damals hat keine weiteren Fragen gestellt. Sie war wohl ein wenig von der Antwort überfordert. Ich hätte gerne noch mehr darüber gesprochen, sie aufgeklärt und sie damit zu jemandem gemacht, der vielleicht selbst keine Angst vor Kliniken hat. Denn auch sie kann es eines Tages treffen (auch wenn ich von ganzem Herzen hoffe, dass das nicht passiert). Niemand ist vor einer Depression, einer PTBS, oder einer Angststörung geschützt. Wir brauchen Menschen, die die Angst nehmen. Lasst uns anfangen.