Was wäre, wenn ich psychisch gesund wäre?

Gestern hat Nora Fieling (eine super Bloggerin, deren Seite ich ganz unten verlinken werde, weil sie wirklich klasse Artikel verfasst) ein Video geteilt, in dem sie folgende Frage stellt: Was wäre, wenn ich psychisch gesund wäre? Ich fand die Frage so interessant, dass bei mir natürlich auch gleich das Kopfgeratter angesprungen ist. Hier also mein Versuch einer Antwort.

Was wäre, wenn ich psychisch gesund wäre? Ich hätte nicht so viel Angst. Ich würde nicht vor jedem Termin schreckliche Panik bekommen, mein Herz würde häufiger in einem gesunden Rhythmus schlagen, ich würde nicht so viel schwitzen und zittern. Wahrscheinlich würde ich deutlich besser schlafen, denn die Angst und die Albträume verhindern häufig einen normalen und regelmäßigen Schlaf. Ich wäre also wahrscheinlich auch körperlich fitter. Ich würde mehr mit Freunden unternehmen, häufiger vor die Tür gehen, endlich meinen Führerschein machen. Ich würde mein Studium abschließen und einen Job bekommen. Oder?

Folgende Erkrankungen hätte ich trotzdem: Schilddrüsenunterfunktion, Rheumatoide Arthritis, Skoliose, Kaseinintoleranz und Meeresfrüchteallergie. Mir würde es also vielleicht doch gar nicht unbedingt so oft so viel besser gehen. Die Frage ist, welche Rückenschmerzen von meiner notorischen Faulheit kommen und welche von der Angst. Wenn ich öfter mit Freunden Essen gehen würde, müsste ich trotzdem darauf achten, was ich esse, oder mit den Bauchschmerzen danach rechnen. Wäre mein Leben also sorgloser?

Ich würde mein Studium abschließen. Das Studium, welches mir seit dem dritten Semester eigentlich gar keinen Spaß mehr bereitet. Die Vorlesungen würden nicht spannender werden, ich würde sie trotzdem öfter besuchen. Was hätte ich also dazugewonnen? Danach würde ich einen Job annehmen, in dem ich mich im besten Fall wohl fühle. Aber ist das überhaupt was für mich? Ein Achtstundenjob fünf Mal die Woche plus Überstunden und vierundzwanzig Urlaubstage? Könnte ich mich darin wohlfühlen? Und wenn ich jetzt den Gedanken habe, dass nicht, ist es dann die Störung, die mir das nur einredet?

Wahrscheinlich würde ich mir mehr tolle Hobbys suchen. Ich würde wieder mit Schwertkampf anfangen und jeden Donnerstag Döner mit den Jungs und Mädels futtern. Aber ich mag eigentlich gar keinen Döner. Auf die Sauce stand ich unendlich, die ist aber dank der Kaseinintoleranz auch nicht mehr drin. Außerdem hab ich ja sogar nur wegen meiner dauernden Angst mit dem Jonglieren angefangen. Was also habe ich meinen psychischen Problemen eigentlich zu verdanken?

Ich hätte niemals angefangen, mich mit Psychologie auseinanderzusetzen. Gut, das Studium lassen wir jetzt mal außen vor. Ich hätte niemals diese Hand voll wundervoller Menschen kennengelernt (oder zwei oder drei Hand voll). Gut, ich hätte wahrscheinlich andere Leute getroffen. Aber diese Vielfalt an Schicksalen wäre mir verborgen geblieben. Wir hätten nicht so viel über psychische Erkrankungen gesprochen. Mein Umfeld hätte sich mit dem Thema nicht auseinandergesetzt.

Meine psychischen Störungen haben mich mir selbst und dem Universum näher gebracht. Psychisch gesunde Menschen (wenn es sowas überhaupt gibt), kratzen bestenfalls an der Oberfläche. Das, was ich gefühlt habe, oder eben auch nicht, bleibt ihnen im schlimmsten Fall ihr Leben lang verborgen. Gut, ich hab mir das nicht ausgesucht, aber würde ich es allein wegen meiner unendlichen Neugierde nicht tun, hätte ich die Wahl? Ich wollte immer tiefer tauchen als die Anderen. Denn das Universum besteht nicht nur aus Licht, sondern größtenteils aus Dunkelheit. Der Mariannengraben fängt ab 5.000 Metern erst an interessant zu werden.

Wie schön das Leben ist, kannst du erst wissen, wenn du es beinahe verloren hast. Wirklich stolz auf dich sein kannst du nur, wenn du vor einer riesen Herausforderung standest. Dabei ist es egal, ob du den Himalaja besteigst, oder es alleine zum Einkaufen schaffst. Das Gefühl danach ist gleich. Manche Menschen müssen sich aus Flugzeugen stürzen, um das fühlen zu können, was eine Zugfahrt mit mir macht. Die Schönheit der Welt nach der Existenzbedrohung. Das ist es, was das Leben wertvoll macht. Zu wissen, wie zerbrechlich es ist.

Was würde ich also tun, hätte ich ab jetzt keine Angst mehr? Ich wüsste so viele Dinge nicht mehr wirklich zu schätzen. Mein Backup aus Freunden und Familie, das ich nur dann spüren kann, wenn ich sie brauche. Das Band zu den Menschen, die mir immer wieder das Leben retten. Die tiefe Dankbarkeit. Auch mir selbst gegenüber, wenn ich stark war oder mir selbst erlaube, schwach zu sein. Meine psychischen Erkrankungen haben mich mir selbst näher gebracht. Ich habe mich durch sie lieben gelernt.

Ich würde wohl zweimal mehr pro Jahr ins Kino gehen. Aber ich mag das eigentlich gar nicht, weil wir zu Hause auch einen tollen Beamer haben und eine viel bequemere Couch. Außerdem kann ich einfach Pause machen, wenn ich aufs Klo muss und der Typ neben mir stinkt auch nicht nach Schweiß. Oder redet mir das nur meine Angst ein?

Ich würde definitiv öfter Schlittschuh laufen gehen im Winter. Das fehlt mir wirklich. Auch das einfach Losfahren und die Welt entdecken, die Unbeschwertheit geht mir oft genug ab. Ich würde mehr reisen, spontan die Koffer packen und mich treiben lassen. Das sind die Aufgaben, die ich mir selbst stelle. Ein Mensch braucht Herausforderungen, Hürden, die es zu überwinden gilt, immer wieder. Bei mir ist es die Angst.

Wäre mein Leben ohne psychische Probleme also einfacher? Vermutlich. Deutlich. Ich würde besser schlafen, würde mein Studium einfach abschließen, mehr Hobbys nachgehen, meinen Führerschein machen, öfter reisen, unbeschwerter lachen. Es wäre einfacher. Es wäre aber auch facettenloser. Es wäre nicht so intensiv. Und vielleicht wäre es sogar ein bisschen langweilig. Wobei psychische Probleme ja nicht die einzigen auf der Welt sind. Wahrscheinlich hätte ich einfach andere Sorgen. Geld zum Beispiel. Denn alles, was ich so machen würde, kostet auch verdammt viel Geld. Das spare ich mir jetzt. Psychische Probleme haben also nicht nur Nachteile. Sie haben mich zu dem gemacht, was ich bin, und ich finde mich eigentlich ganz okay so.

Das alles hier ist keine Kapitulation vor der Krankheit, sondern Akzeptanz. Ich versuche nicht mehr, sie unter allen Umständen zu verdrängen oder weg zu bekommen. Sie ist ein Teil von mir, das habe ich endlich verstanden.

Die Frage ist sowieso: Wo fängt die psychische Störung an, wo hört meine Persönlichkeit auf? Ängstlich wäre ich wahrscheinlich auch ohne Angststörung, sensibel auch ohne PTBS. Was bin ich, was ist Krankheit? Kann man das trennen? Und will ich das überhaupt? Die Seele ist kein Körperteil. Wir trennen uns gerne in Arme, Beine, Herz, Hirn, aber wo ist die Seele? Wo sitzt das Selbst und kann ich das von einer kranken Seele überhaupt trennen? Naja, das ist wahrscheinlich eine Frage für den nächsten Blogartikel. Übrigens, den Blog oder das Schreiben überhaupt hätte ich wohl ohne meine Störung niemals begonnen ;-).



Weiterführende Links

Nora Fieling: http://nora-fieling.de/

Hier noch das Video: https://www.youtube.com/watch?v=XyYHjXkamCc&t=39s

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