Stell dir
vor, du hast eine Angststörung (wobei sich das ja viele hier nicht vorstellen
müssen, weil sie ja wirklich eine haben). Herzlichen Glückwunsch, das ist echt
doof. Jetzt stell dir vor, dazu kommt noch eine Depression, ein Reizdarm und
eine PTBS. Noch herzlicheren Glückwunsch, du hast komorbide Störungen.
Das Wort an sich klingt irgendwie echt witzig. Ist es aber nicht. Komorbidität
beschreibt im Großen und Ganzen einen Sechser im Lotto: Man leidet nicht nur
unter einer Krankheit, sondern zusätzlich unter einer oder mehreren anderen.
Man ist also ko- (also zusammen) morbide (also krank). Dabei liegt eine
Grunderkrankung vor, die von einer weiteren, in ihrer Symptomatik eindeutig
abgrenzbaren Zusatzerkrankung ergänzt wird. Dabei müssen Grunderkrankung und
Zusatzerkrankung nicht in kausalem Zusammenhang zueinander stehen. Letztere
muss also nicht durch erstere verursacht sein.
Jetzt besteht unter anderem auch in der Psychologie das größte Problem darin, die Symptome einer einzelnen Krankheit eindeutig zuzuweisen. Viele Auffälligkeiten treten nämlich auch bei unterschiedlichen Erkrankungen auf. So kann eine klinisch relevante Zurückgezogenheit auf eine Angststörung und eine Depression zurückgeführt werden. Außerdem besteht die Schwierigkeit der Komorbidität darin, welche Erkrankung jetzt die Grunderkrankung, und welche eine Zusatzerkrankung darstellt. Das typische Henne-Und-Ei-Problem also.
Interessant ist der letzte Punkt zum Beispiel beim gleichzeitigen Auftreten von psychischen und körperlichen Erkrankungen. Habe ich zum Beispiel chronische Kopfschmerzen wegen meiner Depression oder entstand die Depression wegen den chronischen Schmerzen? Oder sind die beiden Krankheiten unabhängig voneinander entstanden? Wichtig ist die Zuordnung bei der Behandlung der Störungen. Denn wenn man nur eine der Erkrankungen therapiert, kann sie durch die Existenz der anderen erneut auftreten oder die Therapie bringt einfach nichts. Wenn ich also die Depression mit einer Gesprächstherapie angehe, sie aber unter anderem auch durch die chronischen Kopfschmerzen verursacht ist, wird die Psychotherapie alleine nicht ausreichen. Andersherum bringt es natürlich auch nichts, die Kopfschmerzen mit Medikamenten zu therapieren, wenn sie durch die Depression verursacht oder verstärkt werden.
Jetzt ist es so, dass es eben ziemlich schwierig ist, herauszufinden, was in Körper und Geist durch was verursacht und was durch was bedingt ist, oder wie und ob diese Dinge überhaupt zusammenhängen. Allein die Länge und Komplexität des Satzes zeigt die Schwierigkeit der Komorbidität.
Natürlich können auch psychische Erkrankungen zusammen auftreten. Viele Menschen mit einer Angststörung leiden gleichzeitig unter einer Depression, einer PTBS, einer Persönlichkeitsstörung oder etwas anderem. Genauso kann eine Depression auch mit einer Angststörung, Autismus, ADHS, usw. auftreten. Es gibt aufgrund der Unterscheidung in Grund- und Zusatzerkrankung rein theoretisch sogar die Trennung von „Depression mit Angststörung“ und „Angststörung mit Depression“. Wichtig ist das bei der Therapie.
Eine weitere Schwierigkeit der Komorbidität besteht darin, dass die Zusatzerkrankungen nicht immer offensichtlich sind. So kann der chronische Kopfschmerz, der durch die Depression verursacht ist, mal stärker und mal schwächer auftreten. Die Depression als Grundlage der Kopfschmerzen ist also nicht so einfach ersichtlich. Auch kann eine Angststörung, die durch eine PTBS verursacht wurde, mal mehr und mal weniger auffällig sein. Therapiert werden muss sie trotzdem.
Wie häufig aber treten Komorbiditäten eigentlich auf und welche sind am wahrscheinlichsten? Bei Angststörungen kommt es oft vor, dass im Laufe der Zeit eine weitere Angststörung entwickelt wird. Wenn man also eine Agoraphobie hat, können zusätzlich eine Panikstörung oder eine bzw. mehrere spezifische Phobien dazukommen.
Auch Depressionen stehen in engem Zusammenhang mit Angststörungen. So leiden etwa 70 – 95 % der Menschen mit Depression auch an unterschiedlich stark ausgeprägten Ängsten (was nicht sehr verwundert). Andersherum leiden etwa 40 % der Menschen mit Generalisierter Angststörung ebenfalls unter einer Depression. Dabei muss es nicht unbedingt der Fall sein, dass Angststörung und Depression füreinander ursächlich sind. Das kann man daran erkennen, dass die jeweilige Ausprägung der einen Störung nicht zu einer stärkeren bzw. geringeren Ausprägung der anderen führt. So gibt es Menschen mit stark ausgeprägter Agoraphobie, die keine oder nur eine leichte Depression haben. Andererseits gibt es auch solche, die zwar „nur“ unter einer leicht ausgeprägte Agoraphobie leiden, gleichzeitig aber eine mittlere oder starke Depression entwickeln.
Auffällig ist auch die Komorbidität zwischen Angststörungen und Substanzabhängigkeiten. So leiden in Deutschland etwa 20 % der Menschen mit Angststörung zusätzlich unter einem Substanzmissbrauch oder einer Substanzabhängigkeit. Dabei muss auch hier in Ursache und Wirkung unterschieden werden. Entwickle ich also eine Angststörung, weil ich z.B. alkoholabhängig bin, oder nutze ich Alkohol, um mit meinen Ängsten fertigzuwerden? Oder sind diese Erkrankungen bei mir unabhängig voneinander aufgetaucht? Es ist klar, dass die Beantwortung dieser Fragen elementar für die Therapie ist.
Gerade durch die Komplexität der einzelnen Störungen und die Ähnlichkeit dieser untereinander ist eine Komorbidität nicht besonders leicht festzustellen. Trotzdem ist es extrem wichtig, das zu tun, denn von Zusatzerkrankungen hängt auch die ganze Therapieplanung ab. Wird zum Beispiel nur die Angststörung behandelt und die Depression vergessen, bringt das dem Patienten herzlich wenig. Im ICD-10 gibt es noch eine ganz spezielle Diagnose: F 41.2 („Angst und depressive Stimmung, gemischt“) beschreibt den Zustand, wenn Angststörung und Depression einigermaßen gleichstark ausgeprägt sind, man also nicht in Grund- und Zusatzerkrankung unterscheiden kann. Außerdem darf keine der Störungen für sich alleine eine Diagnose rechtfertigen.
Das Ganze funktioniert auch mit anderen Störungen. F 41.3 („Andere gemischte Angststörungen“) beschreibt den Zustand, dass Angst zusammen mit einer anderen Störungsform auftaucht. Jedoch rechtfertigt auch hier keine der Störungen für sich eine eigenständige Diagnose. Es handelt sich hierbei also um eine Art Ausnahmekomorbidität, wo nicht in Grund- und Zusatzerkrankung unterschieden werden kann.
Jetzt ist es zusätzlich noch so, dass Menschen mit psychischen Störungen nicht lehrbuchhaft perfekte Symptome zeigen. Jemand mit einer Angststörung kann also auch Anzeichen einer Depression zeigen. Wenn diese allerdings nicht als selbstständige Diagnose existiert, der Patient also zum Beispiel nicht genug Kriterien für eine Depression erfüllt, spricht man nicht von einer Komorbidität. Therapiert werden müssen die Symptome trotzdem.
Eine Komorbidität (ich weiß ehrlich nicht, wie oft ich das Wort schon falsch getippt und korrigiert habe) zu erkennen, ist für den Patienten extrem wichtig, aber eben nicht immer leicht festzustellen. Oftmals tauchen Komorbiditäten erst zeitverzögert auf und die Symptome einer Zusatzerkrankung sind nicht immer eindeutig. Trotzdem ist das Erkennen von komorbiden Störungen elementar für den Therapieverlauf und damit dessen Erfolg. Denn wenn ich nur die Angststörung behandele, und dabei die Depression, ADHS, PTBS, Autismus, usw. vergesse, ist ein Therapieerfolg seltener und ein Rückfall wahrscheinlicher.
Quellen: