Wenn man unter psychischen Problemen leidet, ist die erste Anlaufstelle meistens der Therapeut. Klar, das ist auch gut so. Therapeuten können motivieren, anregen, zuhören. Was sie aber nicht können, und ich möchte jetzt niemandem zu nahe treten, ist das tiefe Verständnis des Problems. Sie haben Psychologie studiert und sind sicher auch je nach Person mehr oder weniger kompetent im Umgang mit psychischen Erkrankungen, aber wie es sich anfühlt, das wissen sie selten. Ist ja auch gut so. Ich will sicher keinen Therapeuten, der gerade selbst eine Depression oder Angststörung durchmacht.
Es ist doch eigentlich bei jedem Fach dasselbe. Man kann es studieren, man kann es lernen. Wie Biologen im Urwald von Zentralafrika: Sie beobachten Waldelefanten in ihrer natürlichen Umgebung und ziehen Schlussfolgerungen. Aber wie es ist, ein Waldelefant zu sein, das können sie nicht nachempfinden. Wie fühlt es sich an, einen Rüssel zu haben? Wie ist es, als Elefant zu kommunizieren? Bekommen Elefanten Depressionen? Und wenn ja – fühlen die sich anders an als bei Menschen?
Worauf ich hinauswill ist die Tatsache, dass man alles lange genug studieren kann, um es handhaben zu können. Die Wurzel und Seele, die Quintessenz der Sache, kann nur ein Betroffener selbst erfahren und dementsprechend darauf reagieren.
Deswegen brauchen Gestörte andere Gestörte. Wir brauchen das Verständnis, das nur ein Betroffener empfinden und zeigen kann. Oder um es mit den Worten einer alten Freundin zu sagen: „Ich mag ihn, weil wenn ich eine Krise habe, dann sagt er einfach ‚Ist doch alles scheiße‘ und gut ist.“ Nichtbetroffene neigen einfach sehr schnell zum Helfen. Wahrscheinlich, weil sie selbst häufig schlicht von der Situation überfordert sind. Sie können es nicht nachvollziehen, wie es ist, wochenlang keine Haare zu waschen, weil man es einfach nicht schafft. Müssen sie auch nicht. Erwartet keiner.
Wie gut es tut, mit anderen Betroffenen zu sprechen, merkt man erst, wenn man es getan hat. Ich selbst dachte mir am Anfang aller Krisen: „Was gehen mich deren Probleme an? Sind doch ganz andere als meine.“ Stimmt – ein bisschen. Allerdings kennen wir auch ähnliche Schwierigkeiten, die eine psychische Störung schnell mit sich bringt. Einigeln. Stress mit dem Arbeitgeber. Krankschreibungen. Tausende Arzttermine. Verlust von Freunden. Schuldgefühle. Verzweiflung. Es tut gut darüber zu sprechen, weil man schnell merkt, dass man nicht alleine ist. Man ist nicht der Einzige, der unter diesen Dingen leidet.
Nichtbetroffene können Lebensweisheiten verteilen und motivieren. Betroffene können mitfühlen. Echt, tief im Herzen. Sie neigen häufiger dazu, Dinge nicht totzuschweigen, sondern brutal ehrlich zu sein. Die Sache beim Namen zu nennen. Nicht dieses Rumgedruckse. Depression. Angst. So heißt das. Wieso tun sich Nichtbetroffene nur so schwer dabei, diese Worte zu sagen? Betroffene machen das meistens nicht. Untereinander schämen wir uns nicht, wie wir es „draußen“ tun, weil wir uns nicht schämen müssen. Weil wir alle Dämonen im Kopf haben und das wissen. Weil wir ganz anders aufeinander stolz sein können. Du hast es geschafft, dir heute eine Hose anzuziehen? Ich bin beeindruckt. Du warst am Briefkasten? Du bist ein Held! Du hast den Antrag auf Nachteilsausgleich gestellt? Meine tiefste Anerkennung. Ganz ehrlich. Weil ich weiß, wie es ist, diese Dinge nicht zu können.
Deswegen brauchen Gestörte andere Gestörte. Natürlich brauchen wir auch das Andere. Therapeuten und „normale“ Freunde. Leute, bei denen sich nicht immer alles um die psychischen Probleme dreht. Denen man es vielleicht auch noch ein hundertstes Mal erklären muss, warum es heute nicht geht. Das kann auch gut sein, weil man anfängt, sich selbst und seine Handlungsweisen zu hinterfragen und letzten Endes zu verstehen. Manchmal tut es aber auch einfach gut, einen „gestörten“ Freund anzurufen und gar nichts erklären zu müssen. In Fachkliniken ist das übrigens ein fester Bestandteil des Therapiekonzepts: Die therapeutische Gemeinschaft. Gruppengespräche. Selbsthilfevereine. Interessensgemeinden. Mit anderen Betroffenen sprechen ist wichtig, egal, worunter man leidet. Für eine Teilnahme muss man sich nicht schämen. Man muss sich für gar nichts schämen.
Leider ist das Bild von Selbsthilfegruppen immer noch geprägt von Ami-TV-Shows und Satiresendungen. „Hallo, ich bin der Hans und ich habe Depressionen.“ Und dann alle: „Hallo Hans!“ Selbst über solche Darstellungen kann man sich übrigens mit anderen Betroffenen herrlich auslassen. Ich habe ganz ehrlich noch nie so viel gelacht, wie mit dieser depressiven Freundin. Weil wir ehrlich lachen. Weil wir wissen, wie es ist, wenn man ganz lange nicht lachen kann. Ich weiß das. Die Freundin weiß das. Wir sind stolz aufeinander. So stolz, wie es nur ein Betroffener sein kann.