Es gibt Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die sind eher bekannt und besser nachvollziehbar. Flashbacks gehören wohl dazu, das berühmte Wiedererleben der traumatischen Situation. In Film und Fernsehen werden sie meist von heimgekehrten Soldaten in Form von furchtbaren Einsatzerlebnissen durchstanden. Das sind eindrückliche Bilder, die man schon irgendwie verstehen kann, weshalb das Flashback ein bisschen das Aushängeschild der PTBS ist.
Aber natürlich gibt es da noch ganz viele andere Symptome, die dieses Krankheitsbild prägen. Ist auch logisch, denn welche Erkrankung besteht nur aus einem Symptom? Die Dissoziation habe ich in den letzten Jahren recht ausführlich zu erklären versucht, denn sie gehört mit zu den gefährlichsten Auswüchsen der PTBS – kann man doch während einer Dissoziation zum Beispiel unbemerkt auf eine Straße laufen oder sich anderweitig verletzen.
Dann gibt es allerdings noch diese anderen Symptome, bei denen die Beschreibung etwas schwieriger wird. Dazu gehört für mich auch die Derealisation, die beste Freundin der Depersonalisation, die vermutlich genauso schwer nachzuvollziehen ist. Wobei ich gleich hier dazuschreiben möchte, dass die meisten Menschen eines dieser beiden Phänomene mindestens einmal im Leben durchmacht. Ehrlich? Ja. Wann? Kommt gleich.
Fangen wir doch mal ganz von vorne an: Derealisation bedeutet übersetzt die Abkehr von der Realität. Das kann einem nicht nur mit einer PTBS passieren, sondern zum Beispiel auch im Zuge einer Dissoziativen Identitätsstörung, einer Borderline-Erkrankung, einer Angst- oder Panikstörung, einer Schizophrenie oder einer Depression.
Bei der Derealisation geht es also um eine veränderte und „abnorme“ Wahrnehmung der Umwelt, die zwischen wenigen Augenblicken und dauerhaft jeden Zeitraum einnehmen kann. Obwohl die Umgebung als Ganzes plötzlich komisch und unvertraut erscheint, können bekannte Details problemlos erkannt und benannt werden. Oder wie ich zu sagen pflege: Klar steht der Wasserkocher da schon seit fünf Jahren an diesem Platz. Der guckt trotzdem so komisch. Außerdem können Dinge als weit entfernt, zweidimensional oder unförmig wahrgenommen werden.
Derealisation kann einem aber nicht nur mit Gegenständen passieren, sondern auch mit Personen. Man weiß, dass man diese Arbeitskollegin seit dreißig Jahren jeden Tag sieht, aber komisch ist die heute trotzdem. Nicht anders – nur irgendwie unvertraut. Hat sie eine andere Frisur? Nein. Verhält sie sich anders? Auch nicht. Trotzdem scheint sie fremd zu sein.
Manche Betroffenen beschreiben ihr Erleben als „in Watte gepackt“ oder „wie hinter einer Glasscheibe“. Bei mir ist das anders, ich habe eher das Gefühl, während einer Derealisation schutzlos zu sein. Wieso? Stellt euch das doch bitte so vor: Ich stehe morgens auf, schaue mich in meinem Schlafzimmer um und alles ist unvertraut. Ich kenne die Gegenstände teils schon seit einem guten Jahrzehnt, aber sie sind mir trotzdem fremd. Vertrauen aber ist nicht nur ein Grundbedürfnis, sondern eine Schutzschicht für die Seele. Wenn die wegfällt, fühlt man sich maximal verunsichert. Vor allem, weil ja eigentlich klar ist, dass sich nichts geändert hat.
Aber wo kommt so eine Derealisation her? Meistens ist sie verknüpft mit einer traumatischen Erfahrung. Die muss nicht unweigerlich zu einer Traumafolgestörung führen, kann es aber (deshalb sind Derealisationen vor allem bei Dissoziativen Identitätsstörungen, PTBS und Borderline zu finden). In diesem Augenblick fühlt man sich ausgeliefert, ohne jegliche Kontrolle. Der Körper weiß nicht, wie er reagieren soll, alle vorprogrammierten Mechanismen scheinen nicht zu funktionieren oder bieten sich erst gar nicht an. Und wenn der Körper nicht weiß, was er tun soll, schaltet er ab. Oder eher: Er spaltet sich ab. Bei der Depersonalisation ist das noch klarer verständlich als bei der Derealisation.
Depersonalisation bedeutet, dass man sich von seiner eigenen Existenz abspaltet. Der Körper, den man eigentlich schon sehr lange kennt, scheint fremd und weit weg. Die Füße laufen wie automatisch und scheinbar ohne willentliches Zutun und die Augen schauen ihnen dabei zu. Bei einer Depersonalisation kann es auch passieren, dass einzelne Körperpartien als anders empfunden werden – die Hände scheinen größer als sonst, die Beine länger, das Gesicht im Spiegel fremd. Manche haben auch wortwörtlich das Gefühl, neben sich zu stehen und sich bei den eigenen Handlungen von außen zu beobachten. Der eigene Körper scheint fremd und ferngesteuert, inklusive der Gedanken und Gefühle. Sätze wie: „Ich weiß, dass ich etwas fühle, aber ich fühle es nicht“ oder „Das sind meine Gedanken, aber sie sind mir fremd“ sind typisch. Der Mund lächelt, aber die Freude wird nicht empfunden. Die Tränen kullern, aber man fühlt keine Trauer.
Vorsicht: Nicht mit Wahnzuständen verwechseln, in denen die Gedanken als von einer anderen Instanz eingegeben erscheinen. Denn egal, wie fremd und unwirklich alles wirkt, Menschen mit Depersonalisationen und Derealisationen können trotzdem die Realität erkennen und wissen, dass ihr Zustand nicht normal ist (Krankheitseinsicht). Sie empfinden die eigenen Gedanken, Gefühle und den eigenen Körper als zu sich zugehörig. Komisch anfühlen tut es sich trotzdem.
Die Depersonalisation ist oft direkt auf ein traumatisches Erleben zurückführbar, denn in einer solchen Situation läuft der Körper tatsächlich auf Autopilot. Kommt es später im Leben zu ähnlichen Konstellationen oder wird man bewusst oder unbewusst an das Trauma erinnert (Trigger), schaltet der Körper erneut in den Modus, der einstmals das Überleben gesichert hat. Es muss aber nicht unbedingt immer die Erinnerung an ein Trauma sein, genug Stress reicht auch. Da die meisten Menschen, die von Derealisationen und Depersonalisationen betroffen sind, gleichzeitig unter einer psychischen Erkrankung leiden, ist bei ihnen das aushaltbare Stresslevel sowieso recht gering. Das liegt nicht an „Du bist viel zu sensibel“ und „Unter Druck entstehen Diamanten“, sondern schlicht an der Erkrankung.
Hier ist übrigens auch der Grund zu finden, warum die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens mal eine Depersonalisation oder Derealisation durchmachen: Jeder hat mal richtig Stress. Kennt das jemand, wenn er oder sie so richtig richtig (richtig) übermüdet ist und alles irgendwie komisch wirkt? Oder wenn man extreme Angst hat und der eigene Körper plötzlich ganz anders zu sein scheint und die Umgebung auf einmal fremd wirkt? Von Drogen fange ich hier übrigens gar nicht erst an. Das sind „normale“, weil vorrübergehende und nicht therapiebedürftige Derealisations- und Depersonalisationserlebnisse.
Anders ist es allerdings, wenn diese Phänomene immer wieder auftauchen, vielleicht sogar nicht mehr weggehen oder wenn gleichzeitig andere Symptome einer psychischen Erkrankung existieren. Dann nämlich sollte dringend eine Psychotherapie begonnen werden. Wie eng diese Empfindungen nämlich mit der Reaktion auf ein Trauma verknüpft sind, sieht man daran, dass Menschen mit Derealisationen und Depersonalisationen trotz ihrer veränderten Wahrnehmung schlechter visuelle Reize ausblenden oder ignorieren können. Sie sehen fast alles um sie herum, obwohl es fremd und eigenartig wirkt (oder vielleicht genau deswegen). In einer traumatischen Situation ist das sinnvoll, denn jeder Reiz kann eine Gefahr anzeigen. Im Alltag aber ist das eher nervig, stressig und wenig hilfreich.
Führt jetzt jedes Empfinden von Kontrollverlust gleich zu Depersonalisation und Derealisation? Nein. Abhängig ist das von verschiedenen Faktoren, wie der Intensität der Wahrnehmung des Ausgeliefertseins oder einer persönlichen Vorbelastung (wer schon mal traumatisiert wurde, ist selbstverständlich anfälliger für weitere Traumatisierungen). Tatsächlich scheint auch unsere Kultur ein bisschen dafür mitverantwortlich zu sein, ob wir Depersonalisationen entwickeln oder nicht. In hoch individualistischen Gesellschaften, in denen jeder eine eigene Persönlichkeit haben darf, sind Derealisation und Depersonalisation wahrscheinlicher. In kollektivistischen Gesellschaften treten sie seltener auf. Ganz interessant zu beobachten ist das in unserem eigenen Land: Menschen aus den alten Bundesländern (BRD, individualistisch) leiden häufiger und Derealisationen und Depersonalisationen als Menschen, die in den neuen Bundesländern (bis 1989 DDR, kollektivistisch) aufgewachsen sind. Warum das so ist, weiß niemand.
Ganz entscheidend bei unserer Wahrnehmung, unserem Handeln und dem Empfinden einer Integrität mit dem eigenen Selbst ist was? Genau: Gefühle. Wenn ich morgens meinen Wasserkocher sehe, fühle ich mich sicher und vertraut. Dann fühle ich mich fröhlich, weil ich in meiner sicheren und vertrauten Wohnung bin. Wenn der Nachbar morgens um sieben seinen Rasen mäht, fühle ich mich ärgerlich. Der Reiz (lauter Rasenmäher) führt bei mir zu einer emotionalen Reaktion (Ärger). Das ist mein Bezug zur Realität. Wenn aber das Fühlen wegfällt, verschwindet auch die Vertrautheit mit der Realität. Und genau so funktionieren Derealisation und Depersonalisation – sie sind eine Folge des Verlustes von Gefühlen. In einer traumatischen Situation hat unser Gehirn das als sinnvoll erachtet, denn wenn man zu viel fühlt, schaltet die Schaltzentrale ab. Das Gehirn schafft es dann allerdings nach dem traumatischen Ereignis nicht, sich wieder vollständig anzuschalten. Die Emotionskontrolle des Gehirns ist übermäßig ausgeprägt (Präfrontaler Cortex), wobei gleichzeitig das vegetative Nervensystem und das limbische System viel zu stark auf negative Reize reagieren. Kein Wunder, dass der Körper da durcheinanderkommt und erst mal den Wasserkocher nicht mehr richtig erkennt.
Typisch für Depersonalisation und Derealisation ist übrigens auch das fehlerhafte bis fehlende Erinnern. Während diesen Zuständen wird die Realität nicht nur nicht so richtig wahrgenommen, sondern auch nicht richtig abgespeichert – denn auch dafür brauchen wir Gefühle. Was man nicht fühlt, daran erinnert man sich später auch nicht wirklich. Gleichzeitig kann es zu einer veränderten Wahrnehmung der Zeit kommen. Wenige Augenblicke scheinen dann eine Ewigkeit zu dauern, persönliche Geschichten wirken fremd und weit in der Vergangenheit liegend. Auch das ist bei einem Traumahintergrund sinnig, denn Erinnerungen können einem ziemlich nahe gehen und dann ziemlich wehtun.
Da Depersonalisation und Derealisation meistens im Zuge einer psychischen Erkrankung auftreten, werden sie auch mit den anderen Symptomen dieser Erkrankung als Ganzes behandelt, wobei der Fokus nicht auf der Veränderung der Symptome liegt, sondern auf der Lösung der Erkrankung an sich. Wichtig ist, dass diese Phänomene korrekt erkannt und nicht zum Beispiel mit einer beginnenden Schizophrenie verwechselt werden. Leider kennen sich viele Ärzte und Therapeuten nicht wirklich mit diesen Erscheinungen der menschlichen Wahrnehmung aus.
Derealisation und Depersonalisation an sich sind nicht gefährlich, führen aber zu einem erheblichen Leidensdruck. Außerdem tauchen sie meistens mit einer schweren psychischen Erkrankung auf, weshalb sie dringend ernstgenommen und behandelt werden sollten. Diese Phänomene zeigen uns, wie empfindlich das Ich ist und wie schwierig die Integration des eigenen Selbst in dieser Welt sein kann – vor allem, wenn das Selbst in der Vergangenheit schwer angegriffen wurde.
Quellen und Literaturempfehlungen
https://www.spektrum.de/news/depersonalisation-gefangen-in-der-unwirklichkeit/1578578
https://www.u25-freiburg.de/infothek/derealisation-depersonalisation/