Alltag gegen Erkrankung

Mein Therapeut hat mir Alltag verschrieben. Jeden Morgen (ja, auch am Wochenende) in etwa zur selben Zeit aufstehen, einen Wochenplan einhalten, jeden Abend zur selben Zeit ins Bett gehen (ja, auch am Wochenende) und das alles komme, was wolle. Aber wieso?

Anfangs war es sehr mühsam, um sieben Uhr morgens mit meinem Mann aus dem Bett zu fallen und in die Küche zu wanken, um das Frühstück zuzubereiten. Eigentlich musste ich das doch gar nicht! Ich musste ja nicht zur Arbeit, meine Sachen konnte ich auch am späten Nachmittag erledigen. Trotzdem: Raus aus den Federn, frische Kleidung anziehen, Frühstück vorbereiten, Frühstücken, Zähne putzen und dann ab ans Tagwerk. Je nach Wochentag steht dann Wäsche waschen an, Bad putzen, Einkaufen gehen (wenn ich es alleine schaffe), Müll rausbringen, Blogartikel schreiben, E-Mails checken, Blumen gießen, Unikram erledigen, Post öffnen und beantworten, Staubsaugen, Staubwischen, Betten frisch beziehen und gegen zwölf Uhr Mittagessen kochen. Zusätzlich jeden Mittwoch zur Psychotherapie, donnerstags und sonntags zum Schwimmen und samstags Radfahren oder Spazieren gehen. Nach zwei Monaten klappt das tatsächlich ziemlich gut.

Trotzdem bleibt die Frage: Wofür das Ganze? Warum muss ich ausgerechnet jeden Montag nach dem Frühstück Wäsche waschen? Kann ich das Bad nicht mal am Donnerstag putzen? Und auf Schwimmen habe ich irgendwie gar keine Lust! Wo bleibt da die Freiheit?

Was mir bei meiner psychischen Erkrankung mit am besten hilft, ist der Alltag. Ich habe das bis vor unserem Umzug total unterschätzt und kleingeredet, habe gerne ausgeschlafen und mein Zeug so erledigt, wie ich gerade lustig war – oder eben gar nicht. Aber das ist Gift für mich. Egal, wie schwer es ist, jeden Morgen um sieben Uhr aufzustehen, obwohl es dafür eigentlich gar keine offensichtliche Notwendigkeit gibt, tut es mir gut.

Gerade, wenn meine Symptome besonders ausgeprägt sind, brauche ich diesen Halt. Ich brauche meinen Alltag gegen die Ohnmacht. Natürlich ist das oft alles andere als einfach und manchmal ist manches auch nicht möglich, aber die Richtung steht. Der Verzweiflung nach dem Flashback steht das profane Badputzen mit Lieblingspodcast auf den Ohren entgegen. Ich falle nicht mehr so tief in meine Symptomatik, weil ich einen Anker habe – die Realität, in der die Dusche mal wieder geschrubbt werden möchte, so, wie jede Woche.

Zum anderen wirkt der Alltag auch ganz natürlich auf den Körper. Der hat nämlich gerne einen Rhythmus. Unser Körper unterscheidet sich wenig von dem eines kleinen Kindes, wobei die häufiger essen und mehr schlafen müssen als wir. Auch Erwachsene brauchen aber regelmäßige Schlafens- und Essenszeiten, weshalb es eben von Vorteil für meinen Organismus ist, wenn ich mich jeden Morgen um sieben Uhr aus dem Bett schäle und um 23 Uhr wieder hineinfalle. Es tut ihm gut, wenn ich um halb acht Uhr morgens frühstücke, um 13 Uhr Mittag esse und um 19 Uhr Abendbrot (zwischendurch snacken ist natürlich auch dabei). Mein Körper mag es, dass ich inzwischen dreimal die Woche Sport mache. Schwimmen ist meine Meditation, die Spaziergänge und Radtouren durch die Wälder besser als jeder Energydrink und ja, oft fällt es mir schwer, mich aufzurappeln, aber es lohnt sich.

Es gibt auch die Tage (oder Wochen), an denen es nicht klappt. Wenn ich richtig ausgeprägte Schlafstörungen habe, stehe ich zwar um sieben Uhr auf (weil sich spätestens da inzwischen eh der Hunger meldet, der Körper hat sich ja dran gewöhnt), lege mich aber nach dem Frühstück noch einmal bis zum Mittagessen hin. Das ist in Ordnung. Ich bin ein Mensch, keine voreingestellte Maschine. Und wenn ich es doch nicht schaffe, alleine einkaufen zu gehen, dann erledige ich das eben abends zusammen mit meinem Mann. Oder mein Mann macht es alleine. Geht die Welt auch nicht von unter. Was aber eben immer bleibt, ist der Plan.

Ich weiß, was ich tun kann. Die Richtung steht fest und sie tut meinem Körper und meiner Seele gut. Ich habe einen Rhythmus gefunden, dem ich folgen möchte, der gesund ist und meine Genesung unterstützt. Klar ist der Plan noch nicht perfekt – ich gehe nicht arbeiten, ich erledige den Haushalt beinahe komplett alleine und manchmal kann ich aufgrund meiner Erkrankung das nicht erledigen, was ich mir vornehme. Für den Moment ist er aber gut und das ist mehr als gut für mich.

Denn ich habe eigentlich alles untergebracht, was mein Therapeut mir empfohlen hat oder was ich selbst in meine Woche integrieren wollte: Jeden Tag Bewegung, eine aufgeräumte Wohnung, ausreichend Sport, eine hinreichend gesunde Ernährung, frische Luft, schwimmen, Uni und meine Beziehung kommt natürlich auch nicht zu kurz. Tatsächlich geht es mir durch den Alltag inzwischen schon deutlich besser. Meine Erkrankung ist nicht weg und die Symptome strecken mich trotzdem regelmäßig nieder, aber nicht mehr für so lange und nicht mehr so intensiv. Ich habe einen Strohhalm gefunden, der mich über Wasser hält, wenn ich aufgrund der Erkrankungen drohe zu ertrinken.

Als ich 2012 in der psychosomatischen Klinik war, habe ich die Verantwortlichen für meinen strengen Wochenplan verflucht. Um sechs Uhr morgens aufstehen und erst mal in den Wald wackeln? Die haben doch nicht mehr alle Latten am Zaun! Die sind doch die Verrückten! Aber nach ein paar Wochen habe ich bemerkt, was damit eigentlich erzielt werden sollte: Struktur stärkt die Psyche. Wenn ich aufgrund meiner Dissoziationen und Albträume vollkommen verzweifelt war, stand der Therapieplan wie ein Leuchtturm, ein Orientierungspunkt, vor mir. Ich wusste, was ich tun konnte. Oder noch besser: Ich wusste, was ich tun würde. Genauso ist es hier „draußen“ auch.

Eine psychische Erkrankung fühlt sich unvorhersehbar an. Wann kommt das nächste Flashback? Wann kommt die nächste depressive Episode? Wann kommt der nächste Meltdown? Welcher stressige Termin steht als nächstes an? Welche dämliche E-Mail wird mich heute erreichen? Und wie werde ich darauf reagieren? Weinkrampf? Oder doch nur Dissoziation? Eine Tagesstruktur steht dem entgegen. Wenn ich eine Nachricht erhalte, die mich vollkommen aus der Bahn wirft, erinnere ich mich daran, dass ich ja noch das Bett frisch beziehen wollte. Das mache ich dann auch erst einmal, um mich zu beruhigen. In einer Woche habe ich ein wichtiges Gespräch, vor dem ich extreme Angst habe? Ach, bis dahin ist noch so viel zu tun, da brauche ich mir jetzt noch keine Gedanken zu machen!

Eine psychische Erkrankung droht, das komplette Leben einzunehmen. Nichts ist mehr einfach, alles steht im Zeichen der Symptome. Auch dem steht der Alltag entgegen. Ich habe so viel in meinem Leben außer meiner Erkrankungen. Ich habe Dinge zu erledigen. Ich habe ein Leben zu leben. Die Psyche ist zwar immer dabei, darf aber auch mal hinten anstehen.

Und eine psychische Erkrankung gibt vielen von uns das Gefühl, wertlos und inkompetent zu sein. Auch dem steht der Alltag entgegen. Ich tue mir bewusst jeden Tag etwas Gutes. Ein schönes Vollbad. Eine halbe Stunde in unserem derzeit sehr üppig blühenden Garten. Ein Waldspaziergang, um den Spechten beim Hämmern zuzuhören. Habe ich das Schwimmen, für mich die schönste Form der Meditation, bereits erwähnt? Außerdem tue ich auch meiner Umgebung etwas Gutes. Ich pflanze Kräuter an, die die Insekten lieben. Ich halte meine kleine Wohnung sauber, damit sich alle darin wohlfühlen (inklusive unserer Hausspinnen Charlotte und Willi). Ich setze mich abends aufs Sofa und bin erstaunt darüber, was ich alles geschafft habe – manchmal sogar trotz relativ stark ausgeprägter Symptomatik.

Wenn es dann eben doch mal nicht so geht, wie der Plan es eigentlich vorsieht, dann ist das in Ordnung. Ich kritisiere mich deshalb nicht zu Tode, sondern akzeptiere mich, wie ich eben bin. Ich habe noch immer eine psychische Erkrankung, die mich nicht regelmäßig schlafen lässt (wobei das auch besser geworden ist), die mich tagelang erschöpft auf dem Sofa liegen lässt und meinen Körper mit Stresshormonen flutet. Ich habe Wochen, in denen das Bad nur halbherzig geputzt ist und im Ofen eine Fertigpizza liegt. Das ist menschlich. Niemand schafft immer einhundert Prozent. Und wenn mein Körper in einer Nacht mal elf Stunden schlafen möchte, dann wird eben doch das Frühstück nach hinten verschoben.

Alltag tut mir gut. Alltag gibt mir eine Struktur, eine Orientierung und einen Bezug zur Realität. Alltag bedeutet Anstrengung und manchmal Überwindung, aber das Gefühl, es dann doch geschafft zu haben (und wenn auch nur ein bisschen), gibt mir Hoffnung für die nächste Krise. In der darf es dann auch mal unaufgeräumter aussehen. Alltag mag mein Körper. Alltag lässt mich ausgeglichener sein, weil ich mich auf den Waldspaziergang freuen kann. Alltag ist super. Es lebe der Alltag!

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