Mobbing und Ostrazismus

Mobbing ist in seiner vielschichtigen Komplexität stets grausam. Dabei wird der Fokus häufig auf physisches Mobbing gesetzt. Wie viel psychischer Stress dahintersteckt, wird dabei leider übersehen. Denn Mobbing bedeutet nicht immer nur Schlagen, Treten, oder den Rucksack aus dem Fenster zu werfen. Auch verbales Mobbing ist möglich, wie Diffamierungen, das Verbreiten von Gerüchten oder gezieltes Vorführen des Opfers. Mobbing ist regelmäßiges und ständiges Schikanieren oder Quälen eines Opfers durch einen oder mehrere Täter. Dabei wird die Würde des Opfers mit Füßen getreten. Außerdem gibt es ein wie auch immer geartetes Machtungleichgewicht: Der Täter dominiert das Opfer. Dabei muss es keine objektiven, hierarchischen Unterschiede geben. Auch ein Angestellter kann seinen Chef mobben. Tatsächlich entsteht dieses ungleiche Machtverhältnis durch das Mobbing selbst. Das Opfer wird durch die Taten des oder der Täter abgewertet. Was aber, wenn das Mobbing dadurch entsteht, dass wortwörtlich niemand etwas tut? Diese Form nennt sich Ostrazismus.

Das Wort „Ostrazismus“ stammt vom altgriechischen Begriff „Ostrakismos“. Beim „Scherbengericht“ wurden weniger gemochte oder zu mächtige Bürger aus der Stadt verbannt. Vor allem in Athen war das Scherbengericht verbreitet. Ostrazismus als Mobbingform ist dem sehr ähnlich: Eine einzelne Person wird von der Gemeinschaft ausgestoßen. Sie wird nicht zu Gruppenaktivitäten eingeladen, muss das Mittagessen oder die große Pause alleine verbringen, niemand möchte am Schreibtisch neben diesem Menschen sitzen. Ostrazismus ist also das systematische Ausschließen einer Person von der Gemeinschaft durch das Unterlassen von eigentlich sozial angemessenen Verhaltensweisen. Ostrazismus kann am Arbeitsplatz passieren, in der Schule oder im Sportverein. Eben immer dort, wo Personen sich zu einer Gruppe zusammenschließen.

Ostrazismus ist dabei extrem gefährlich, denn er verstößt gegen das natürliche Zugehörigkeitsbedürfnis eines jeden atmenden Säugetiers. Baumeister und Leary (1995) formulierten auf Grundlage dieser Annahme ihre „need to belong“-Theorie. Dieser Theorie folgend haben alle Menschen das grundlegende Motiv, einer Gruppe anzugehören und von anderen anerkannt zu werden. Evolutionär betrachtet sind wir angewiesen auf unsere Gemeinschaft. Alleine kann der Mensch nicht existieren. Wird er also aus der Gruppe ausgeschlossen, so ist das die schlimmste denkbare Strafe, die (zumindest evolutionär gesehen) zum Tod führen konnte. Auch heute haben Menschen ein angeborenes Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit. Wir brauchen unsere Gemeinschaft. Wir definieren uns über sie und identifizieren uns mit ihr. Gerade in der Selbstfindungsphase während der Pubertät hat die Gruppenzugehörigkeit eine elementare Funktion.

Da ist es schmerzhaft, wenn man als Einziger nicht zum Geburtstag eines Kollegen oder Klassenkameraden eingeladen wird. Wenn kein Stück Kuchen mehr übrig bleibt, niemand sich für den letzten Urlaub interessiert und die anderen in Schweigen verfallen, sobald man den Raum betritt. Auch Kinder zeigen bereits recht ausgefeiltes Ausgrenzungsverhalten. So fanden Asher, Rose und Gabriel (2001) 32 Arten von Zurückweisung bei Kindern. Wegschicken oder von Spielsachen verdrängen waren nur zwei davon. Aber auch das Nachahmen von „ekelnden“ Geräuschen kam vor. Das tut weh. Ganz physisch übrigens. So zeigten Kross, et al. (2011), dass Ostrazismus das Schmerzzentrum des Gehirns anregt. Wird eine Person also in ihrem natürlichen Zugehörigkeitsgefühl verletzt, tut das ganz real weh.

Das Problem: Während physische Gewalt wenigstens noch einigermaßen dokumentiert und bewiesen werden kann, nehmen viele Lehrer oder Arbeitgeber einen Ausschluss nicht ernst. Häufig werden solche Ereignisse als „Kindergarten“ herabgewürdigt. Klar, was soll schon schlimm daran sein, dass man nicht zu einer Party eingeladen wird? Und die Kollegen werden felsenfest behaupten, man wolle ja beim Mittagessen ungestört sein. Schließlich könne man Mitschüler ja auch nicht zwingen, mit einem bestimmten Kind Freundschaft zu schließen. Dieses Kind aber merkt genau, dass es unerwünscht ist. Es wird ihm deutlich gezeigt. Wie so häufig bei Mobbing wird auch Ostrazismus kleingeredet. Man müsse sich ja nur einmal wehren, oder die Situation eben nicht so ernst nehmen. So einfach ist das aber nicht.

Die Auswirkungen von Ostrazismus und sozialer Ausgrenzung können verheerend sein. Unweigerlich führen sie zu psychischem Stress und physischem Schmerz (siehe oben). Dauert diese Form des Mobbings weiter an, können schwere psychische Erkrankungen, wie Depressionen, Angststörungen oder sogar Belastungsstörungen wie eine PTBS folgen. Der Person wird systematisch das Gefühl gegeben, unerwünscht zu sein, ein Klotz am Bein, fehl am Platz. Auch wenn Kinder und Erwachsene es sich häufig nicht ansehen lassen wollen, führt Mobbing immer zu Leid. Es ist an der Zeit, genauer hinzusehen und diese menschenverachtenden Verhaltensweisen deutlicher zu ächten.

Denn wie bei vielen anderen Straftaten, nichts anderes ist Mobbing, wird noch viel zu häufig das Opfer beschuldigt. Man hätte sich wie gesagt nur wehren müssen. Diese Spielereien nicht an sich heranlassen dürfen. Und eigentlich ist das Opfer ja selbst Schuld durch das, was es gesagt oder getan hat. So funktioniert Mobbing aber nicht. Mobbing liegt immer ein Problem des Täters zugrunde, wie eigenes mangelndes Selbstvertrauen. Das Opfer ist niemals Schuld an der Tat. Das muss so benannt werden. Und dem Opfer muss auf dieser Basis Hilfe angeboten werden. Mobbing bedeutet nicht nur physische Gewalt. Mobbing beginnt schon bei Unterlassung eigentlich angemessener sozialer Verhaltensweisen – dem Ostrazismus.

 

Quellen

  •  Asher, S.R., Rose, A.J. & Gabriel, S.W. (2001). Peer rejection in everyday life. In M.R. Leary (Hrsg.), Interpersonal rejection (S. 105-142). Oxford, University Press.
  • Baumeister, R.F. & Leary, M.R. (1995). The need to belong: Desire for interpersonal attachments as a fundamental human motivation. Psychological Bulletin, 117, 497-529.
  • Kross, E., Berman, M. G., Mischel, W., Smith E. E., & Wagner, T. D. (2011). Social rejection shares somatosensory representations with physical pain. Proceedings of the National Academy of Sciences, 108, 6270-6275.

Triggerwarnungen - sinnvoll?

Triggerwarnungen. Ein Thema, bei dem sich die Meinungen in zwei Lager teilen: „Ja, bitte“ und „So ein Quatsch“. Ich persönlich bin tatsächl...