Eines der Vorurteile, mit denen ich manchmal kämpfen muss, ist die Behauptung, Menschen mit psychischen Problemen hätten eh nichts anderes zu tun und wegen ihrer Faulheit bekämen sie die Störung. So von wegen: „Früher gab’s sowas wie Depressionen nicht, da mussten die Menschen noch arbeiten. Heute bekommt ja jeder alles geschenkt.“ Auf die Aussage gehe ich gar nicht weiter ein, so viel Dummheit muss man erstmal verdauen. Das ist so, als würde ich sagen: „Früher gab’s sowas wie Magen-Darm-Grippen nicht, die Leute hatten gar keine Zeit für sowas, die haben alle einen Herzinfarkt bekommen und sind tot umgefallen, vorher haben die jeden Tag zwanzig Stunden gearbeitet.“ Egal.
Es ist tatsächlich so, dass bei psychischen Problemen das Alltagsleben extrem heruntergeschraubt wird. Wer nicht mehr vor die Tür gehen kann, kann auch nicht jedes Wochenende feiern gehen, von Hobbys gar nicht zu sprechen. Ich habe tatsächlich auch fast alle meine Freizeitaktivitäten gecancelt, weil ich schlicht nicht zweimal die Woche zum Training gehen konnte. Das ist verdammt traurig und tut heute, zwei Jahre später, noch weh.
Jetzt ist es allerdings auch so, dass Bewegung bei Depressionen und Angststörungen wahre Wunder wirken kann. Wo soll ich die in meiner sechzig Quadratmeter-Wohnung herbekommen? Online-Fitnessstudio? Kein Platz. Fußball? Der arme Wohnzimmerschrank. Ich habe wirklich lange überlegt und Sachen ausprobiert und gleich wieder verworfen. Nicht mal das regelmäßige Spazierengehen oder Radfahren bekomme ich hin. Wenn ich es nicht einmal von der Couch schaffe, wie soll ich dann eine Stunde radeln gehen? Richtig, gar nicht. Es geht aber auch einfacher.
Ich jongliere. Im September 2016 habe ich damit angefangen. Ich hab mir einfach drei Bälle im Internet bestellt, die Jongliertücher lagen praktischerweise schon seit Jahren daheim herum. Dann hab ich einfach angefangen. Am Anfang? Vollkatastrophe. Aber Jonglieren hat ein paar ganz tolle Vorteile.
Nummer Eins: Man lernt es entgegen der allgemeinen Meinung relativ schnell. Nach zwei Tagen konnte ich die Tücher schon ein paar Schwünge lang in der Luft halten. Mit den Bällen hat es logischerweise etwas länger gedauert, ging aber nach einer Woche auch schon relativ gut. Das Ergebnis? Einen Monat später konnte ich die Tücher minutenlang werfen, die Bälle auch. Im Dezember konnte ich mit zwei Bällen in einer Hand jonglieren, im Februar konnte ich sie sehr hoch werfen, im April sehr dicht beieinander. Inzwischen versuche ich das Jonglieren mit vier Bällen, was auch schon erstaunlich gut funktioniert.
Nummer Zwei: Zum Jonglieren braucht man nicht sehr viel Platz und es macht keinen Lärm. Es klappt also auch in der eigenen Wohnung um halb drei Uhr morgens. Klar, wenn mal einer auf den Boden fällt, fallen die Nachbarn gleich mit aus dem Bett. Die Lösung? Jonglieren über der Couch 😉. Wenn sie da runterpurzeln, gibt es kaum einen Ton. Die Deckenhöhe ist am Anfang auch relativ egal, weil man eh erstmal dicht am Körper jongliert. Beim Hochwerfen ist dementsprechend ein Altbau von Vorteil.
Nummer Drei: Es braucht keine Vorbereitung und kann zu jeder Tageszeit ausgeführt werden. Das ist gerade dann super, wenn ich nicht schlafen kann. Bewegung hilft da häufig. Jetzt kann ich allerdings nicht um vier Uhr morgens im Winter spazieren gehen. Deswegen das Jonglieren.
Nummer Vier: Es ist anstrengender, als man meinen möchte. Klar, es trainiert jetzt nicht unbedingt so sehr wie stundenlanges Schwimmen oder Radfahren. Trotzdem wird beim Jonglieren der ganze Körper beansprucht. Wem das noch nicht genug hardcore ist, kann sich auf ein Wackelkissen stellen. Viel Spaß 😉. Ehrlich, nach einer halben Stunden intensiven Jonglierens auf dem Kissen hab ich am ganzen Körper Muskelkater. Adrenalin und Cortisol wird abgebaut und man wird ruhiger. Gerade, wenn am nächsten Tag ein Termin ansteht, jongliere ich vor dem Schlafengehen. Oder ich jongliere direkt vor dem Termin. Die Bälle habe ich übrigens auch immer dabei, falls die Panik kommt. Dann werden erstmal die Kopfhörer aufgesetzt und losjongliert. Scheiß drauf, was die Leute denken. In dem Moment geht es nur um mich.
Nummer Fünf: Jonglieren macht Spaß. Am Anfang purzeln zwar die Bälle noch sehr oft zu Boden, aber man wird schnell besser. Man bekommt also relativ rasch positives Feedback. Das pusht das Selbstwertgefühl ungemein (bei mir zumindest). Wenn ein Ball runterfällt, finde ich das auch nach fast einem Jahr nicht schlimm. Niemand ist perfekt. Man macht eben einfach weiter und wenn man es beim nächsten Mal schafft, was man monatelang nicht hinbekommen hat, ist das Glücksgefühl kaum beschreibbar. Gerade, wenn man eine schwere Zeit hat, ist das Gold wert (oder noch mehr als das).
Kleiner Tipp: Jonglieren zur Lieblingsmusik ist doppelt geil. Gerade dann, wenn man von Unruhe übermannt wird, Kopfhörer auf die Ohren und Musik ganz laut drehen, losjonglieren. Eine halbe Stunde später bin ich die Ruhe in Person und kann allen Schrecken der Welt begegnen.
Gerade wenn man mit psychischen Problemen und inneren Dämonen zu kämpfen hat, braucht man Sachen, die einen ablenken und positive Gefühle vermitteln. Hobbys sind schwer aufrechtzuhalten, wenn man innerlich einen Kampf mit sich selbst austrägt. Regelmäßig zum Training gehen kann verdammt schwer bis unmöglich sein. Was tun? Ausprobieren. Was könnte ich trotz meiner Störung machen? Gibt es etwas, was mir Spaß machen könnte? Denn wenn wir eine Sache dringend nötig haben, dann ist das etwas Ablenkung. Jonglieren kann man übrigens auch im Bett sitzend und wenn man ganz schrecklich weinen muss (auch schon ausprobiert).