Gestern wurde von der Bundespsychotherapeutenkammer eine neue Studie darüber veröffentlicht, wie lange Kassenpatienten auf eine Psychotherapie warten müssen. Die Studie verlinke ich am Ende dieses Textes. Darin heißt es, dass ein gesetzlich Versicherter durchschnittlich ca. 5 Wochen auf ein Erstgespräch und fast 20 Wochen auf den Beginn der eigentlichen Psychotherapie warten muss. Das ist nicht nur peinlich für unser Gesundheitssystem, sondern Körperverletzung.
Ein Vergleich: Breche ich mir ein Bein, gehe ich in die Notaufnahme des nächstgelegenen Krankenhauses. Das wäre bei mir knapp 15 Minuten mit dem Auto entfernt (je nachdem, wo ich mir mein Bein breche und ich würde natürlich mit dem gebrochenen Bein nicht selbst fahren). Dort werde ich nach mehr oder weniger kurzer Wartezeit behandelt. Das Bein wird geröntgt, in Gips gewickelt und ich bekomme Krücken. Die nächsten sechs Wochen bleibt dieser Gips dran, juckt wie Hölle und kommt dann ab. Das Bein ist geheilt.
Habe ich ein traumatisches Erlebnis – ja, was dann? Wo fahre ich hin? In die Psychiatrie? Leider nein, denn dort finden zum einen keine Gespräche im Sinne einer Psychotherapie statt, zum anderen habe ich da nichts zu suchen, wenn ich nicht akut selbst- oder fremdgefährdend bin. Was also sonst?
Ich kann eine Kriseninterventionsnummer anrufen. Ich kann mich bei der Telefonseelsorge (0800 - 111 0 111) melden oder beim Sozialpsychiatrischen Dienst meiner Stadt. Das würde ich auch auf jeden Fall tun, wenn ich eine ernste psychische Krise habe, denn dort kann akut sehr gut geholfen werden. Aber was dann?
Nach dem Gespräch muss ich mir dringend eine ambulante oder stationäre Psychotherapie suchen. Kliniken haben aber häufig Wartezeiten von über sechs Monaten, genauso wie die Psychotherapeuten in der Umgebung. Diese sechs Monate muss ich alleine überleben. Ja, überleben, denn um mehr geht es in dieser Zeit nicht. Ich muss durchhalten, bis mir geholfen werden kann. Wer kann sechs Monate durchhalten, wenn er ein gebrochenes Bein hat? Und wer soll sechs Monate schaffen, wenn die Seele gebrochen ist?
Ich möchte niemanden demotivieren. Psychotherapien sind noch immer der beste Ausweg aus scheinbar ausweglosen Situationen. Wenn du dich erschöpft oder traurig fühlst, dauernd von deiner Angst gelähmt bist oder Flashbacks und Albträume dich jagen, dann musst du in Behandlung. Das ist keine Frage. Und sich jetzt einen Termin für in sechs Monaten geben lassen ist immer noch besser als gar keinen Termin haben.
Ich finde es nur schrecklich, wie mit Menschen mit ernsthaften Erkrankungen umgegangen wird. Depressionen sind keine Luxuskrankheit, sondern tödlich. Angststörungen sind nicht einfach „mal ein bisschen mehr Angst haben“, sie zerstören Leben. Und es ist absolut unverantwortlich, diese Menschen so lange warten zu lassen. Denn psychische Erkrankungen können chronisch werden, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt werden. Sie dehnen sich aus, sie vergiften den Körper und irgendwann geht gar nichts mehr.
Menschen, die bei einem Psychotherapeuten oder einer psychosomatischen Klinik anrufen, sind verdammt mutig. Sie haben eingesehen, dass sie Hilfe brauchen und sie sind bereit, gegen die eigenen Dämonen zu kämpfen. Das sind sie aber nicht lange. Allein der Griff zum Telefon bedeutet eine enorme Anstrengung, die man nicht einfach jede Woche ein paar Mal machen kann. An der anderen Seite der Leitung geht dann der Anrufbeantworter ran. Im besten Fall ruft irgendwann mal jemand zurück. Was übrigens die nächste Überwindung ist: Wieder ans Telefon gehen. Wer es bis hierher geschafft hat, wird mit den Worten „Ich führe leider keine Warteliste“ oder „Ich kann Ihnen ein Erstgespräch in fünf Wochen anbieten. Die Therapie würde aber erst in sechs Monaten anfangen“ begrüßt. Wer hat da noch die Kraft, für sich selbst zu kämpfen? Wie viele haben an genau diesem Punkt aufgegeben? Wie viele hätten gerettet werden können?
Das klingt polemisch, ist es aber nicht. Das ist die Realität. Ich selbst suche seit drei Jahren händeringend einen guten Psychotherapeuten. Bei drei war ich vorstellig, alle drei waren schrecklich, haben mich aus ihrer Praxis getriggert oder meine Probleme schlicht ignoriert. Die anderen haben entweder nicht zurückgerufen, oder mir am Telefon berichtet, sie würden dieses Jahr keine Patienten mehr aufnehmen. Jedes Jahr.
Ich habe es verdammt oft versucht. Jedes Mal, wenn ich auch nur ein bisschen Kraft in mir gespürt habe, einen Hauch von Motivation und Hoffnung, und ich schwöre, ich habe für diesen Hauch gekämpft, griff ich zum Telefon. Drei Jahre lang. Bis jetzt bin ich nirgendwo untergekommen.
Ich verstehe nicht, wie so lange über das Problem diskutiert werden kann. Die Sachlage ist seit Jahren hinreichend bekannt. Es hat nie jemanden interessiert. Zumindest nicht so sehr, dass sich mal darum gekümmert werden würde. Ich wüsste gerne mal, was für Argumente angebracht werden können, um diese katastrophale Situation zu beschönigen. Sechs Monate auf einen Behandler warten zu müssen ist grausam und menschenverachtend.
Psychische Erkrankungen sind nicht so harmlos, wie sie gerne dargestellt werden. Sechs Monate warten ist kein Luxusproblem, sondern verdammtes Überleben. Hier geht es nicht um Bequemlichkeit oder Jammern auf hohem Niveau, hier geht es um Menschenleben.
In zwei Monaten habe ich mein nächstes Erstgespräch. Dieses Mal in einer Ambulanz für Psychotherapie, in der ich von noch nicht ausgebildeten Psychotherapeuten (PiAs) behandelt werde. Nach diesem Erstgespräch darf ich sechs Monate warten. Also insgesamt acht Monate. Die Zeit zwischen Erstgespräch und Therapiebeginn sind die schlimmsten. Gedanken, doch alles hinzuschmeißen, werden laut. Ich kenne niemandem, bei dem es nicht so war oder ist. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele es nicht schaffen, diese Wartezeit zu überstehen. Damit meine ich nicht unbedingt Suizid. Man muss nicht tot sein, um aufgegeben zu haben. Die Hoffnung zu verlieren reicht.
Jeden Tag werden in diesem und vielen anderen Ländern Menschen mit psychischen Erkrankungen stigmatisiert, kleingeredet und ignoriert. Allein die wirtschaftlichen Verluste sind enorm (spätestens hier sollte auch der Gesundheitsminister mal die Ohren spitzen, wir reden von mehreren Milliarden Euro). Wir wollen keine mit Rosen gepflasterten Wege. Wir wollen keinen Champagner im Wartezimmer. Wir wollen verdammt noch mal die Therapieplätze, die wir brauchen. Weil wir krank sind. Punkt.
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