Diagnose und Fehldiagnose

Mein erstes Zusammentreffen mit einem Psychotherapeuten werde ich wohl nie vergessen. Ich saß auf einem doch etwas zu klischeehaften roten Sofa, die Wände waren in knalligem Orange gestrichen, durch das Fenster schien die Abendsonne herein. Ich war achtzehn Jahre alt, meine Hände zitterten vor Anspannung, ich höre noch immer das Rauschen in meinen Ohren. Vor mir eine mittelalte Frau mit schütterem, blondem Haar, auf dem Schoß ein Klemmbrett, in der rechten Hand lässig gehalten ein Kugelschreiber.

Lange erzählte ich von meinen Problemen. Der Angst, die Schule zu betreten. Die Angst vor dem Übergeben, vor anderen Menschen, vor mir selbst. Ich konnte zu dieser Zeit nicht einmal zu meinem Briefkasten gehen, weil der sich leider auf der falschen Seite der Hauswand befand. Geduldig nickend lauschte die Therapeutin meinen Ausführungen. Dann kam die Diagnose: Essstörung.

Ich hatte keine Sekunde etwas über Nahrungsaufnahme gesagt, noch hatte ich offenkundig ein Problem damit. Ich erklärte ihr, dass ich doch drei Mahlzeiten pro Tag einnahm, dass ich gerne aß, manchmal auch zu viel. Sie lauschte wieder, nickte, und bestätigte mir erneut die Diagnose: Essstörung. Ich solle doch direkt in eine Klinik gehen, es bestünde Lebensgefahr. Ich verstand die Welt nicht mehr.

In keinem medizinischen Fachbereich gibt es so viele Fehldiagnosen wie in der Psychologie. Das mag zum einen daran liegen, dass die Diagnostik komplizierter ist als ein bloßer Bluttest oder ein EKG. Zum anderen gibt es aber noch immer zu viele Behandler, die ihrem eigenen Wort mehr Glauben schenken als standardisierten Testverfahren. Wie aber sieht die Diagnostik im psychologischen und psychotherapeutischen Raum eigentlich aus?

 

Der Diagnostikprozess

Wer schon einmal beim Arzt saß, weiß, dass am Anfang immer die Anamnese steht. Warum kommt der Patient überhaupt in die Praxis? Welcher Leidensdruck existiert seit wann und welche Symptome werden geschildert? Beim Psychotherapeuten ist das nicht anders. Der Patient erzählt in der ersten Sitzung, warum er vor einiger Zeit zum Hörer griff und beim Behandler anrief. Er schildert Schlafstörungen, destruktive Gedanken, Probleme in der Arbeit oder der Schule. Am Ende dieser fünfzig Minuten steht eine Verdachtsdiagnose im Raum. Der Psychotherapeut wird erklären, worin er die Problematik verursacht sieht, welche Schritte des Weiteren geplant sind und was er empfiehlt. Diese Verdachtsdiagnose ist wichtig, denn kein Patient will in der ersten Stunde hören: „Ich habe keine Ahnung, was sie haben.“ Trotzdem muss eine Verdachtsdiagnose behutsam behandelt werden, denn sie ist genau das – ein Verdacht.

In den nächsten Sitzungen folgt die weitere Diagnostik. Fragebögen werden mit nach Hause gegeben oder in der Praxis ausgefüllt, die Lebenssituation abgefragt, erste Hausaufgaben gegeben. Eine Therapie im engeren Sinne findet zu diesem Zeitpunkt noch nicht statt. Dabei können verschiedene Elemente, die eigentlich der Behandlung zugeschrieben werden, auch für die Diagnostik herhalten. Ein klassisches Beispiel ist die Konfrontation mit den angstauslösenden Reizen Wichtig auch hier schon: Alles, was geschieht, dient dem Patienten. Wenn er also eine Diagnostikmethode ablehnt, ist das sein gutes Recht.

Entscheidend für die Diagnostik ist Einfühlungsvermögen, Verträglichkeit der Tests für den Patienten und dementsprechende Transparenz ihm gegenüber. Warum wird gerade dieser Fragebogen ausgeteilt? Wieso muss ich das jetzt machen? Kann das gefährlich für mich sein und welche Risiken gibt es? All das muss ein Therapeut kommunizieren. Merkt er, dass die Diagnostik dem Patienten nicht guttut, muss er sie anders gestalten. Dabei im Hinterkopf zu behalten ist natürlich, dass die Konfrontation mit den eigenen Problemen, und genau das ist die Diagnostik, immer schwer und in gewisser Weise belastend ist. Hier sind Kosten und Nutzen klar gegeneinander abzuwägen und mit dem Patienten zu besprechen.

 

ICD-10 – die Bibel der Behandler

ICD-10 steht für die zehnte Ausgabe der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. Herausgegeben wird der ICD-10 von der WHO, er bildet die Hauptdiagnosegrundlage für jegliche körperliche oder seelische Erkrankungen in Deutschland. Hier sind zu jeder Krankheit die zugehörigen Symptome zu finden, die ausführlich erklärt werden. Außerdem gibt die WHO zwei zugehörige Handbücher heraus, nämlich die klinisch-diagnostischen Leitlinien („blaues Buch“) und die Diagnostischen Kriterien für Forschung und Praxis („grünes Buch“).

Jedes Erkrankungsspektrum hat einen eigenen Buchstaben. „A“ und „B“ sind zum Beispiel infektiöse oder parasitäre Krankheiten, „J“ Krankheiten des Atmungssystems und „Q“ angeborene Fehlbildungen, Deformitäten oder Chromosomenanomalien. Der Buchstabe „F“ gehört denen mit psychischen und Verhaltensstörungen. Jeder Buchstabe hat nachfolgend entsprechende Unterklassifikationen. So steht F32.1 für eine Mittelgradige depressive Episode und F43.1 für die Posttraumatische Belastungsstörung.

Die Diagnostik nach ICD-10 ist nicht immer einfach. So sind die gezeigten und beschriebenen Symptome nicht immer eindeutig einer Erkrankung zuzuschreiben. So kann ein Depressiver auch Symptome einer Angststörung zeigen, wobei eine eigenständige Diagnose aufgrund zu geringer Intensität der Symptome nicht angebracht wäre. Außerdem gibt es noch das Problem der Komorbiditäten. Hierbei kommt es zu verschiedenen, parallel laufenden Erkrankungen, die zwar unabhängig voneinander eine Diagnose rechtfertigen, aber trotzdem im selben Patienten stecken und gemeinsam das Komplettbild formen. Bei Komorbiditäten muss also herausgefunden werden, welche Erkrankung die Grunderkrankung ist, und welche nur hinzugekommen sind. So kann ein Patient mit Angststörung eine Alkoholabhängigkeit haben, weil er, um seine Angstsymptome zu unterdrücken, zu dieser betäubenden Substanz greift. Bei der Diagnostik muss also darauf geachtet werden, ob weitere Erkrankungen vorliegen und wie diese einander bedingen und aufrechterhalten.

 

Organische Ursachen ausschließen

Die vierte Therapeutin, bei der ich zwischenzeitlich war, fragte mich in der ersten Stunde in den ersten Minuten folgendes: „Haben Sie mal ihre Schilddrüse checken lassen?“ Da ich seit 2008 unter einer Schilddrüsenunterfunktion leide, habe ich diese Frage bejaht. Warum hat sie die überhaupt gestellt?

Viele psychische Symptome können körperlich verursacht sein. Eine nicht richtig arbeitende Schilddrüse kann depressive Symptome wie Konzentrationsschwierigkeiten und andauernde Müdigkeit verursachen. Ein B12-Mangel ebenso. Auch Magen- und Darmerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Atemwegserkrankungen können dementsprechende Symptome bedingen. Ganz hoch im Kurs stehen natürlich Hormone. Das Problem hier ist, dass diese extrem fein aufeinander abgestimmt sind und äußerst komplex arbeiten. Man munkelt, dass die eine oder andere Patientin ihre Depression dadurch loswurde, dass sie die Pille absetzte.

Da die meisten Patienten vor dem Weg zum Psychotherapeuten erst einmal an organische Erkrankungen denken, sind diese meistens relativ fundiert ausgeschlossen. Ich erinnere mich an vier EKGs, zwei CTs, ein MRT, eine Magen- und Darmspiegelung und unzählige Blutabnahmen, bevor die Diagnose Angststörung im Raum stand.

 

Standardisierte Testverfahren – der Königsweg der Diagnostik

An der Diagnostik eines Behandlers kann man gut ablesen, wie er in der Therapie weiterführend arbeiten wird. Viele verlassen sich nur auf ihr Bauchgefühl und höchstens noch auf den ICD-10. Gute Therapeuten führen zusätzlich aber noch bestimmte Tests durch, die zu den Verdachtsdiagnosen passen. Natürlich sollte man den Patienten nicht „totdiagnostizieren“, einer fundierten Therapie geht aber immer eine fundierte Diagnostik voraus.

Standardisierte Testverfahren zeichnen sich dadurch aus, dass sie mal wissenschaftlich konstruiert und evaluiert wurden. Sie folgen bestimmten Gütekriterien – Objektivität, Reliabilität und Validität.

Objektivität bedeutet, dass das diagnostische Ergebnis unabhängig von der diagnostizierenden Person ist. Alle Patienten werden also gleich getestet, ihre Antworten auf gleiche Weise ausgewertet und Normwerten entsprechend interpretiert.

Reliabilität beschreibt die Genauigkeit eines Testverfahrens. Bei wiederholter gleicher Messung müssen die gleichen Ergebnisse ausgespuckt werden. Wenn ich also meinen Depressionstest zweimal ausfüllen würde, zum Beispiel im zeitlichen Abstand von zwei Wochen, sollte beide Male herauskommen, dass ich depressiv bin oder nicht.

Die Validität entspricht der Frage, ob der Test überhaupt das misst, was er messen soll. Sind zum Beispiel die Items (also die Fragen oder Aussagen) repräsentativ für alle Fragen, die man hätte stellen können? Deckt der Test alle Bereiche der Erkrankung ab? Und vor allem: Kann man von dem Ergebnis, das der Test ausspuckt, auf die Realität des Patienten schließen? Wenn mir zum Beispiel ein Fragebogen attestiert, dass ich ein besonders großes Selbstwirksamkeitsempfinden habe, ich aber selbst das Gefühl nicht loswerde, dass ich gar nichts hinbekomme und mein Leben nicht gestalten kann, dann hat der Test versagt.

 

Warum ist Diagnostik überhaupt wichtig?

Diese Frage kann man ganz einfach mit einer Gegenfrage beantworten: Wie soll man denn sonst mit einer Therapie anfangen? Ich muss ja am Anfang erst einmal wissen, worunter der Patient überhaupt leidet. Eine Therapie gegen Depression sieht ganz anders aus als die gegen eine Angststörung. Die Diagnostik ist also die Grundlage für jede Behandlung.

Außerdem sollte niemals unterschätzt werden, was eine Diagnose dem Patienten bedeutet. Klar, anfangs ist es immer eine Schublade, in die man gesteckt wird. Andererseits bekommt aber das Monster endlich einen Namen und damit eine Angriffsfläche. Man ist wirklich real krank und nicht einfach verrückt, die Gedanken und Symptome nicht eingebildet. Das bedeutet dem Patienten sehr viel.

Der Patient identifiziert sich auch in gewisser Weise mit der Diagnose. Oft verhält er sich sogar dementsprechend. Das kann zum einen zu einer Symptomverstärkung zu Beginn der Therapie führen, zum anderen aber auch zu einer Veränderung des Verhaltens. Das ist gerade bei Fehldiagnosen sehr gefährlich. Der Patient kann schädliche Symptome annehmen, die er vorher gar nicht gezeigt hat. Das stützt im Umkehrschluss die Fehldiagnose und bereitet den Weg für eine nicht adäquate Therapie.

Wichtig ist deshalb, eine Diagnose niemals als gesetzt und fest anzusehen. Im Laufe der Therapie können weitere Symptome ans Licht kommen, die der ursprünglichen Diagnose nicht entsprechen. Essenziell ist also eine Laufzeitdiagnostik. Es muss regelmäßig objektiv reflektiert werden, ob die derzeitige Diagnose und Therapiemethode überhaupt noch angemessen sind. Was es hierfür braucht, ist eine gewisse Wachheit und Reflektiertheit des Behandlers.

Man sollte sich als Patient auch nicht scheuen, mögliche Skepsis einer Diagnose gegenüber zu zeigen. Ich weiß, das ist verdammt schwer und oft unmöglich. Andererseits ist eine nicht auf der eigentlichen Erkrankung basierende Therapie eben auch nicht hilfreich. Ein guter Behandler wimmelt Fragen des Patienten nicht ab, sondern nimmt sie als mögliche Kritik an und überprüft das eigene Vorgehen dementsprechend. Nicht so wie die Therapeutin, die ich eingangs beschrieb. Hätte sie mehr zugehört, wäre ihr vermutlich aufgefallen, dass ich unter einer Angststörung litt und nicht unter einer Essstörung. Ich bin nach diesem Erstgespräch nicht mehr zu ihr gegangen, sondern zu einem anderen Therapeuten. Mit ihm arbeitete ich konstruktiv zwei Jahre lang an meinen Problemen. Anschließend wurde ich stabil entlassen. Grundlage seiner Therapie war eine umfangreiche Diagnostik. Zum Glück.

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