Wieso bist du denn krank?

„Bei dir hätte ich ja nie vermutet, dass du unter psychischen Problemen leidest.“

Ich sehe mein Gegenüber an und denke über eine gute Antwort nach. In seinem Gesicht sehe ich Verwirrung und irgendwie – Mitleid. Letzteres versuche ich zu ignorieren. Ich hole tief Luft, seufze und sage: „Ja, ich auch nicht.“

Psychische Erkrankungen suchen sich ihre Wirte nicht aus. Sie schweben nicht durch die Luft, deuten dann auf ein potenzielles Opfer und sagen: „Der da ist perfekt!“ Oder vielleicht tun sie es ja. Wer weiß das schon.

Fakt ist, dass jeder Mensch von ihnen heimgesucht werden kann. Es gibt zwar Faktoren, die eine Entstehung unwahrscheinlicher machen, so wie häufiges Händewaschen gegen Erkältungen helfen sollen. Trotzdem schniefen alle im Winter herum. Und trotzdem wird man halt psychisch krank.

Diese „Sicherheitsmechanismen“ heißen Coping. Wer in einem gesunden Elternhaus aufwächst, keine genetische Vormarkierung hat (das berühmte Kreuz auf der Stirn, damit die psychischen Erkrankungen einen auch finden), nicht unter Mobbing oder Ausgrenzung leidet, hat schon mal gute Karten, von den Monstern ignoriert zu werden. Außerdem helfen solche Dinge wie ein gutes soziales Umfeld, ein gewisses Maß an Selbstwirksamkeitsgefühl („Ich kann alles schaffen, wenn ich es nur will“) und Ausgleichsmöglichkeiten wie Hobbys.

All das kann helfen. Es sind aber keine Garantien dafür, niemals unter einer psychischen Erkrankung zu leiden. Eine PTBS kann auch den am besten in den Freundeskreis integrierten Menschen nach einer traumatisierenden Grenzerfahrung treffen. Eine Wochenbettdepression trifft nicht nur schlechte Mütter. Eine Angststörung macht nicht halt vor den tollsten Hobbys.

Und da ist ja noch die Kindheit. Klar ist es toll, wenn man eine erfüllende hat. Es gibt aber Millionen da draußen, denen das Glück nicht so hold war. Für schlechte Eltern kann man nichts. Für Missbrauch kann man nichts. Es passiert trotzdem. Das Gehirn eines Kindes ist noch ungeformt (also, es hat schon Gehirnform, aber die Synapsenverbindungen sind variabler als im Erwachsenenalter). Ein Kind lernt aus den Erfahrungen, das es macht. Und wenn einem Kind früh eingeredet wird, wie undankbar, faul und schlecht es ist, dann übernimmt das Kind dieses Denken für den Rest seines Lebens. Da helfen auch tolle Hobbys und gute Freunde wenig. Wenn man die überhaupt hat.

Die Vergangenheit kann man Menschen auf den ersten Blick nicht ansehen. Wäre vermutlich auch schrecklich, wenn das ginge. Der Satz „Bei dir hätte ich das nicht gedacht“ bedeutet häufig einfach nur „Wir haben nie über früher geredet“. Und das ist oft auch gut so. Ich gehe nicht mit meinen Dämonen hausieren. Über vieles kann ich nicht mal mit mir selbst sprechen.

Man kann nach außen das perfekte Leben haben, um zu Hause zusammenzubrechen. Instagram und Facebook machen es uns viel zu leicht, nach außen hin den glorreichen Schein zu wahren. Über verschlossene Türen spricht man nicht. Man postet sie aber auch nicht in den sozialen Netzwerken. Der Grund hierfür liegt schlicht in unserer Sozialisation, in unserer Gesellschaft. Wer erfolgreich ist, wird gefeiert. Wer Hilfe braucht, wird schief angeschaut.

„Ach, du hast doch gar nichts. Außer ein perfektes Leben!“ Diese Meinung ist absolut gefährlich, denn viele Betroffene reden sich das selbst ein. Und warum auch nicht? Traumwohnung, Kinder, glücklich verheiratet – wie undankbar kann man sein, in dieser Konstellation eine Depression zu bekommen? Nur sucht man sich die eben nicht aus. Coping ist schön und gut – nur manchmal sind das Trauma oder die eingepflanzten Gedankengänge eben stärker.

Häufig sind diese Reaktionen aber auch schlicht aus unserem eigenen Verhalten abzuleiten. Zu gut haben wir gelernt, uns selbst hinter Masken und Floskeln zu verstecken. Um zu funktionieren. Um nicht abgelehnt zu werden. Ein Teufelskreis. Denn fällt die Maske einmal zu Boden, kann niemand glauben, wie lange sie schon auf der Nase saß. Dann bekommen wir oft das, was wir so bitterlich vermeiden wollten: „Wieso bist du denn krank?“

Ja, wieso eigentlich? In meinem Fall bin ich mir ziemlich sicher, dass ich aus der ganzen Geschichte gar nicht anderes hätte herauskommen können. Da halfen auch keine tollen Reitstunden, Gitarrenunterricht und dutzende Freunde. Ich hatte immer gute Noten, kam mit allen klar, war wild und scheinbar selbstbewusst. Dass das alles aber unter zu hohem Druck auch nicht mehr hilft, war vom Schicksal vorgeschrieben.

Es ist aber eigentlich auch für den Großteil der Menschheit egal, warum gerade ich unter psychischen Problemen leide. Das geht außer den Betroffenen niemanden etwas an. „Bei dir hätte ich ja nie vermutet, dass du unter psychischen Problemen leidest.“ Inzwischen antworte ich einfach mit: „Es gibt Gründe, aber das sind meine. Irgendwann kann ich darüber sprechen. Aber nicht heute. Bitte respektiere das.“ Sie respektieren es. Und rätseln weiter. Denn unter der dicksten Schicht aus perfektem Leben steckt eine kleine, viel zu tief verletzte Julia, die um ihr Überleben kämpft. Und ein bisschen Normalität. Nicht um Perfektion.

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