Emotionaler Missbrauch an Kindern

Emotionaler, also psychischer, Missbrauch ist genauso schlimm wie physischer und sexueller Missbrauch. Ein Mensch wird nicht mehr als Mensch gesehen, sondern nur noch als Ding, das man herumschubsen und misshandeln kann wie es einem beliebt. Dabei ist emotionaler Missbrauch gar nicht so selten. Laut einer Studie von Vachon et al. (2015) leiden etwa 36 Prozent der Kinder weltweit unter seelischer Misshandlung. Aber was soll und kann man tun, wenn emotionaler Missbrauch geschieht?

Als Betroffene/r selbst merkt man meist erst spät, was überhaupt geschehen ist. Zu normal wirken die Misshandlungen, zu sehr hat man sich daran gewöhnt. Der Gedanke, diese Dinge müssten geschehen, verhindert die Distanzierung von den Taten. Denn die Täter sind geschickt darin, die Schuld auf das Opfer zu übertragen. Dabei ist ein/e Betroffene/r niemals schuld. Schuld sind immer nur die Täter.

Besonders perfide ist emotionaler Missbrauch, wenn er im frühen Kindesalter beginnt. Die Betroffenen wachsen mit dem Wissen auf, grundsätzlich falsch zu sein, nichts richtig machen zu können und Bestrafung zu verdienen. Kinder glauben alles, was Bezugspersonen erzählen, weshalb emotionaler Missbrauch immer mehr ist als Worte. Wenn Eltern vor anderen Eltern darstellen, wie böse ihre Kinder sind, dann glaubt das Kind das. Wenn Geschwister erzählen, dass ein Kind an allem schuld ist und die Familie glücklicher ohne es wäre, dann glaubt das Kind das. Wenn ein/e Lehrer/in berichtet, dass das Kind nur stört, dann glaubt das Kind das. Was sollte es denn auch sonst glauben, wenn ihm nie etwas anderes vorgelebt wird?

Kinder, die misshandelt werden, finden sich mit ihrem Schicksal ab. Sie ertragen, lernen, dass sich zur Wehr setzen nur mit schlimmeren Strafen einhergeht, verstummen – und nehmen das ein Leben lang mit. Sie suchen sich Partner, die sie ähnlich behandeln, bauen kein Selbstwertgefühl auf, existieren oft nur für andere. Aber was soll und kann man tun, wenn emotionaler Missbrauch geschieht?

Grundsätzlich sollte in der Gesellschaft endlich verstanden werden, dass Eltern nicht immer das Beste für ihr Kind wollen. Manchmal wollen sie nur das scheinbar Beste für sich selbst und das ist oft die Erniedrigung des eigenen Nachwuchses, das Wut auslassen an dem hilflosen Wesen, das Machtgefühl. Es sollte außerdem verstanden werden, dass nicht alles, was Eltern tun, dem Wohle des Kindes dient. Ein Kind verdient es nicht, dass ihm eingeredet wird, wie wertlos es ist. Ein Kind verdient es nicht, in Häme und Angst aufzuwachsen.

Was für Erwachsene lustig ist, ist es nicht unbedingt für Kinder. Sarkasmus verstehen wir erst ab einem Alter von sechs Jahren. Wenn ein Elternteil also sagt, dass natürlich der Weihnachtsmann böse Kinder in den Sack packt und mitnimmt, damit sie Zwangsarbeit am Nordpol leisten, dann ist das für die Erwachsenen vielleicht lustig – das Kind glaubt das. Kinder merken bei Ironie, dass etwas nicht stimmt, sie wissen aber nicht was und das verunsichert. Solltest du als Erwachsener also einmal zu einem Kind gesagt haben: „Ach, das war doch nur Spaß!“, dann kannst du dir sicher sein, dass es für das Kind eben kein Spaß war.

Lachen auf Kosten eines Kindes ist emotionaler Missbrauch. Kinder vorhalten, dass sie stören, falsch sind oder an Dingen Schuld tragen, für die sie offensichtlich nichts können, ist das emotionaler Missbrauch. Und der ist strafbar. Emotionaler Missbrauch hat nichts mit guter Erziehung zu tun, nichts mit „Da muss das Kind durch“ oder „Später wird es auch nicht mit Samthandschuhen angefasst“. Ein Kind hat das Recht auf eine sichere und gewaltfreie Erziehung. Es hat das Recht auf Liebe, körperliche Nähe und Verständnis. Ganz einfach.

Ich stehe in einer Gruppe von Erwachsenen und Kindern. Ein Kind wird vor der Gruppe von einem Elternteil bloßgestellt. Ich sehe, wie das Kind leidet, wie es den Blick senkt oder sogar anfängt zu weinen. Was tue ich? Zeige ich Zivilcourage?

Ich spreche es an: „Das ist ganz schön gemein, wenn deine Mama so was über dich sagt.“

Die Mama reagiert sofort: „Ach, das ist doch nur Spaß. Außerdem ist das meine Sache, was mischst du dich in meine Erziehung ein?“

„Das hat nichts mit Erziehung zu tun. Das ist Bloßstellen.“

„Ach Gott, das ist doch alles gar nicht ernst gemeint, meine Güte.“

Die Mutter nimmt das Kind am Arm und schleift es weg. Leise murmelt sie noch „Dass heute jeder meint, sich einmischen zu müssen.“

Ja, ich muss mich einmischen. Es ist meine Pflicht, mich einzumischen. Wenn jemand offensichtlich unter der Tat eines anderen leidet, mische ich mich ein – vor allem dann, wenn die Person sich nicht selbst wehren kann, wie das bei Kindern nun einmal der Fall ist. Das Kind kann nicht sagen: „Mama, dein Humor und dein Sarkasmus schmerzen mich und ich möchte, dass du damit aufhörst.“ Ein Kind erträgt. Was für ein Recht habe ich, einfach danebenzustehen oder sogar mitzulachen?

Ich weiß, dass bei den meisten Tätern Worte der Aufklärung nicht ankommen. Wenn ich nur eine/n dazu bringen kann, über die eigenen Handlungen nachzudenken, wenn ich nur einem Kind das Gefühl geben kann, dass das eben nicht normal ist und dass jemand auf seiner Seite steht, dann werde ich es weiterhin tun. Ich spreche übrigens inzwischen nicht mehr die Täter an, sondern die Opfer. „Es ist nicht in Ordnung, was hier passiert. Ich sehe, wie weh es dir tut.“

Dann wird mir auch gerne mal vorgeworfen, dass ich nur versuche, die Kinder zu beeinflussen und auf meine Seite zu ziehen. Ja? Ganz genau? Tut mir leid, dass ich dein Kind auf die dunkle Seite der Erziehung führe, in der Gewalt nicht angebracht ist. Oder ist die Seite nicht eher der Widerstand? Sind wir nicht die Rebellen? Die Guten in der Geschichte? Bist du nicht Darth Vader, der Angst und Wut säht? Und wieso gebrauche ich hier jetzt Star Wars-Analogien?

Jedes Kind, das versteht, wie falsch das ist, was ihm angetan wird, ist ein Kind, das sich wenigstens ein wenig Selbstwertgefühl aufrechterhalten kann. Das sich vielleicht bei anderen Personen Hilfe sucht. Das im Erwachsenenalter stolz sagen kann, dass es sich sein Selbstbewusstsein bewahren konnte, trotz aller Widrigkeiten. Jedem Kind, dem geholfen wird, stehen Türen offen, die für viele andere von Anfang an verschlossen sind.

Also schau nicht weg. Schau bewusst hin, schau auf den Schmerz und die Verzweiflung der Betroffenen. Sag ihnen, wie falsch es ist, was passiert. Sag ihnen, dass sie richtig sind und eine Meinung und Bedürfnisse haben dürfen. Sag den Tätern, dass sie Darth Vaders oder Mudders oder Geschwister oder Lehrer sind. Zeig der Welt, dass es dir nicht egal ist, was auf ihr geschieht.

 

Quelle:


Vachon, D. D., Krueger, R. F., Rogosch, F. A., & Cicchetti, D. (2015). Assessment of the Harmful Psychiatric and Behavioral Effects of Different Forms of Child Maltreatment. JAMA Psychiatry, 72 (11). doi: 10.1001/jamapsychiatry.2015.1792.

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