Wenn die Seele juckt

Eine psychische Erkrankung ist wie eine Grippe: Wenn man nichts dagegen tut und sich nicht schont oder behandeln lässt, wird sie eher immer schlimmer und kann potentiell sogar tödlich sein. Einmal verschleppt geht sie kaum mehr weg und die Folgeschäden können immens sein. Doch selbst im Genesungsprozess verändern sich die Symptome, neue kommen hinzu, andere verschlechtern sich. Woran liegt das?

Am Anfang meiner Erkrankung stand die Angst. Nicht mehr. Ich hatte Angst davor das Haus zu verlassen, mich in größeren Menschenansammlungen zu bewegen oder mich übergeben zu müssen. Als die Angst immer schlimmer und ein normales Leben undenkbar wurde, ging ich zu einem Psychotherapeuten. Der diagnostizierte mir eine Agoraphobie und riet mir zu einem stationären Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik. So eine Angststörung sei gut behandelbar, munterte er mich noch auf. Voller Erwartungen ging ich nach ein paar Monaten Wartefrist in die Klinik.

Viele Betroffene kennen das: Man bekommt eine Diagnose und nach ein paar Jahren hat sich ein ganzes Sammelalbum zusammengetan. Am Anfang ist es eine Angststörung, dann wird die Depression dazu diagnostiziert, dann ist es plötzlich Borderline, eine Essstörung, ADHS im Erwachsenenalter oder eine Posttraumatische Belastungsstörung.

Bei mir war es tatsächlich genauso. In der Klinik kam die erste Dissoziation – oder zumindest die erste, die diesen Namen erhielt. Ich driftete mitten in einer Gruppentherapiesitzung weg. Mein Bezugstherapeut war ganz erschrocken, hatte doch vorher absolut nichts darauf hingedeutet. Was folgte waren noch mehr Dissoziationen, unzählige Flashbacks und Nächte voller Albträume. Die PTBS hatte ihren Weg gefunden.

Die war natürlich nicht in der Klinik geboren worden, sondern schlummerte vorher schon tief in mir. Nur hatte sie sich bis zu diesem Zeitpunkt alleine über die Angst gezeigt. Wieso? Weil sie endlich offen existieren durfte. Was an diesem Punkt wichtig ist, ist folgender Fakt: Meine Traumatisierung bestand nicht aus einem einmaligen Erlebnis. Während der Zeit in der Klinik war ich mittendrin. Mein Kopf hatte keine Kapazitäten für Flashbacks und Dissoziationen, er musste für das Überleben des restlichen Körpers sorgen.

Als ich endlich Ruhe hatte, folgte die Aufarbeitung des Erlebten. Die hält bis heute an, denn meine Seele hat endlich die Kraft, neben dem alltäglichen Kämpfen mit der Verarbeitung des Geschehenen zu beginnen. Das fühlt sich zwar maximal blöd an, ist aber ein gutes Zeichen für eine zukünftige Besserung – davon bin ich zumindest überzeugt. Durch diesen Prozess kamen aber auch neue Symptome hinzu und ältere verschlechterten sich. Dafür verschwanden aber auch Symptome, meine Angst zum Beispiel, die am Anfang maximal war, hat sich deutlich reduziert. Phobien von damals (Emetophobie, soziale Phobie) sind sogar komplett überstanden. Sie waren nur ein Ausdruck von dem, was mein Körper noch nicht richtig ausdrücken konnte – dem Trauma.

Eine Erkrankung, egal, ob psychisch oder physisch, verläuft selten stringent nach Schema F. Natürlich gibt es klassische Symptome, die eine Diagnostik und Therapie erleichtern, aber kranke Menschen sind grundindividuell. Symptome können von selbst verschwinden, sich schnell verschlechtern oder neue können hinzukommen. Deshalb ist es wichtig, immer darauf zu achten, welche Symptome gerade existent und wie stark ausgeprägt sind. Eine einmalige Diagnose ist nicht zielführend, eher muss immer wieder eine Diagnostik erfolgen und verdächtigen Anzeichen nachgegangen werden.

In meinem Psycho-Panini-Sammelalbum kleben inzwischen viele bunte Bildchen. Die meisten werde ich hoffentlich niemals bekommen (man kann ja auch nicht alles haben). Mit denen, die ich mein Eigen nennen darf, komme ich relativ gut zurecht. Manche Symptome begleiten mich seit einem Jahrzehnt, andere sind noch neu und unbekannt. Sie sind ein Zeichen dafür, dass sich meine Erkrankung wandelt, dass ich mich mit ihr entwickle und vielleicht sogar zum Besseren wende.

Symptome sind ein Zeichen von Krankheit – sie können aber auch ein Zeichen von Heilung sein. Kennt jemand dieses super nervige Jucken von Wunden? Mama hat immer gesagt, wenn’s juckt, dann heilt’s. Meine Seele juckt gerade. Sie juckt ziemlich und nervt mich phänomenal jeden Tag. Aber dieses Jucken ist gut. Es zeigt, dass ich noch am Leben bin, dass ich kämpfe und dass sich dieser Kampf lohnt. Denn vieles hat sich bereits gelöst. Auch, wenn es sich gerade erst mal wie die schlimmste Erstverschlechterung der Welt anfühlt, so heile ich langsam. Ich heile endlich. Und alles begann mit diesem hoffnungsvollen Aufenthalt in der Klinik. Wer weiß, was ohne Hilfe so alles verborgen geblieben wäre, was so in mir gebrodelt hätte und wann es explodiert wäre.

Triggerwarnungen - sinnvoll?

Triggerwarnungen. Ein Thema, bei dem sich die Meinungen in zwei Lager teilen: „Ja, bitte“ und „So ein Quatsch“. Ich persönlich bin tatsächl...