Stigmatisierung und Komplexität

Stigmatisierung ist etwas, das vermutlich die allermeisten Menschen mit psychischer Erkrankung kennen. Die Kollegen lästern hinter dem Rücken über die Faulheit des/der Betroffenen, Freunde beschweren sich darüber, dass man an keinen Aktivitäten mehr teilnimmt und anscheinend kein Interesse mehr an einer Freundschaft hegt, die Eltern sagen, dass man sich nicht so heillos aufspielen soll. Stigmatisierung tut weh.  

Ich denke, dass Erkrankungen eher stigmatisiert werden, je weniger sie greifbar sind. Wenn jemand sagt, dass er Morbus Chron hat, dann wissen alle: Okay, der Darm. Wenn jemand sagt, dass er blind ist, dann wissen alle: Okay, Problem der Augen oder des visuellen Cortex. Wenn aber jemand sagt, dass er eine Depression hat, dann kann diese Erkrankung nicht einem Organ zugeordnet werden. Depressionen sitzen im ganzen Körper, sie machen nicht nur Kopfschmerzen, sondern auch Herzrasen und Durchfall. Ähnlich ist es bei körperlichen Erkrankungen, die schwer greifbar sind. Fibromyalgie ist so ein Beispiel.

Außerdem sind psychische Erkrankungen für die Gesellschaft sehr komplex. Es gibt einfach sehr viele, die sich alle unterschiedlich zeigen, mit verschiedenen Symptomen, Symptomkombinationen und Symptomstärken. Alle blinden Menschen können nicht sehen, aber nicht alle Menschen mit psychischer Erkrankung haben zum Beispiel Probleme mit dem Antrieb. Wenn ich also sage, dass ich psychische Probleme habe, dann kann sich mein Gegenüber schwer etwas darunter vorstellen, bis ich meine konkrete Erkrankung nenne – und selbst da fehlt das Wissen.

Wodurch wir den dritten Punkt erreichen: Aufklärung. Dadurch, dass psychische Erkrankungen stark stigmatisiert und Betroffene oft diskriminiert werden, spricht kaum jemand darüber. Gerade in der Anfangsphase der Erkrankung ist das auch schwer möglich, zu wenig greifbar sind die eigenen Probleme, zu wenig ist man es gewöhnt, danach gefragt zu werden oder sie klar zu formulieren. Zu Beginn meiner Erkrankung war meine häufigste Antwort auf „Was brauchst du?“ folgende: „Keine Ahnung.“ Es waren schlicht keine Worte vorhanden, meine eigenen Symptome für mich selbst zu diffus, ich es zu wenig gewöhnt, über sowas wie Gefühle oder die Psyche zu sprechen, als dass da etwas Konkretes hätte herauskommen können.

Die Gesellschaft weiß zu wenig über psychische Erkrankungen. Klar, ein Brennpunkt bei Punkt 12 über die scheinbare psychische Erkrankung eines Promis ist schon lustig – aber wenig informativ. Fünfzig Dokus über Depressionen sagen mir noch nicht, was ich tun kann, wenn ich eine Dissoziative Identitätsstörung habe. Die auch in den Medien oft ausgesprochene Floskel „Sie müssen sich Hilfe suchen“ bringt nichts, wenn es keine ausreichenden Therapieplätze gibt. Die Gesellschaft schaut hin, ohne etwas sehen zu wollen. Und dann kommen so wundervolle Sprüche zu Stande wie „Stell dich nicht so an, so ist eine Depression gar nicht, das weiß ich aus dem Fernsehen.“

Ich muss allerdings zugeben, dass so etwas wie eine psychische Erkrankung auch wirklich schwer zu verstehen ist – zumindest für nicht Betroffene. Wer kann sich schon vorstellen, wochenlang das Bett nicht verlassen zu können, weil keine Kraft vorhanden ist? Wer kann sich schon vorstellen, grenzenlose Panik zu haben, weil man in den Supermarkt muss? Das ist schwer zu verstehen, klar. Aber wer kann sich schon vorstellen, monatelang jeden Tag zwanzig Mal Durchfall zu haben? Vermutlich auch nur Menschen mit chronischer Darmerkrankung.

Worauf ich hinaus will: Man muss Dinge nicht verstehen, um sie zu respektieren. Man muss zuhören, lernen, kombinieren, im Gehirn abspeichern und kluge Tipps und Sprüche aus dem Speicher streichen. Wenn eine Person mit Erkrankung (psychisch und physisch) sagt, dass etwas für sie nicht möglich ist, dann ist das so. Dann wird diese Information im Wortlaut verstanden, abgespeichert und der Kopf wird in rhythmischer Bewegung nach oben und unten geführt (das nennt man „Nicken“). So einfach ist das.

Die Gesellschaft muss uns zuhören. Wir als Betroffene müssen endlich gesehen werden – und zwar so, wie wir sind. Nicht romantisiert, nicht humorvoll aufbereitet, nicht überdramatisch dargestellt, sondern einfach so. Die allgemein verständliche Floskel „Jeder ist doch irgendwie involviert, wenn es um psychische Erkrankungen geht“ muss endlich in den Alltag integriert werden. Barrierefreiheit braucht es auch bei psychischen Erkrankungen. Willkür im Umgang mit uns muss abgebaut werden. Und es braucht Aufklärung. Es braucht so unglaublich viel Aufklärung und zwar nicht nur in Foren und Blogs, die eh nur Betroffene besuchen (wobei die auch ziemlich wichtig sind, ich will mir hier gar nicht die eigene Existenz absprechen), sondern und vor allem da draußen.

Es braucht Menschen, die mutig sagen: „Ja, ich bin psychisch krank und jetzt erlaubt mir endlich, was mir rechtmäßig zusteht!“ Wir brauchen Menschen, die auf unserer Seite kämpfen, wenn wir selbst keine Kraft mehr dafür haben. Wir brauchen Menschen, die sich dieser Ohnmacht entgegenstellen und sagen, dass es eben nicht in Ordnung ist, wie mit uns umgegangen wird. Weil es das nicht ist. Und vor allem brauchen wir Menschen, die ehrlich zuhören.

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