Warum psychische Erkrankungen kein gebrochenes Bein sind

Vergleiche zwischen psychischen und körperlichen Erkrankungen hinken wie ein Fünfjähriger mit Gipsbein. Wo wir schon beim Thema wären. Julia Engelmann singt in ihrem Lied „Grapefruit“ folgende Zeilen: „Mit 'nem Beinbruch gehst du auch zum Orthopäden, deshalb kannst du ja vielleicht mal mit 'nem Psychologen reden?!“ Irgendwie haben mir diese Worte immer ein wenig aufgestoßen und inzwischen weiß ich sogar warum.

Eine psychische Erkrankung ist kein gebrochenes Bein. Ein Orthopäde ist kein Psychologe (wobei sie vermutlich einen Psychotherapeuten meint, weil was will ich mit einer Depression bei einem Verkehrspsychologen oder einem Personalreferenten?). Wieso neigen wir eigentlich so dazu, psychische mit körperlichen Erkrankungen vergleichen zu wollen? Der Grund ist eigentlich ganz einfach.

Unter körperlichen Erkrankungen können sich mehr Menschen etwas vorstellen. Wenn ich sage, dass ich aufgrund meiner depressiven Episode so erschöpft bin wie bei einer ausgewachsenen Grippe, dann nicken die Leute dankbar, weil sie froh sind, das zu verstehen. Wenn ich sage, dass es undenkbar wäre, wenn jemand nach einem Herzinfarkt neun Monate auf eine Reha warten müsste, das aber bei psychischen Erkrankungen Gang und Gäbe ist, dann nicken die Leute noch deutlicher und nachdenklicher, weil sie diesen Vergleich ebenfalls begreifen. Aber eine psychische Erkrankung ist nun einmal kein gebrochenes Bein. Wieso? Hier eine kleine Gegenüberstellung.

Der Bruch eines Knochens ist eine einmalige, schockartige, plötzlich sehr schmerzhafte Verletzung. Eine psychische Erkrankung wächst über Monate oder sogar Jahre. Die Verschlechterung ist schleichend, eher wie bei einer Autoimmunerkrankung. Die Symptome müssen schon sehr deutlich sein, damit man sich in ärztliche Behandlung begibt. Ich erinnere mich hier nur gerne an einen Freund von mir, der erst mit seiner Kolitis zum Arzt ging, nachdem er zehn Kilo leichter und blass wie eine Wand war. Bei psychischen Erkrankungen ist das ähnlich. Also: Psychische Erkrankung eher wie Autoimmunerkrankung, weniger wie ein gebrochener Knochen.

Der zweite Punkt betrifft die Heilung. Ein gebrochener Knochen ist nach etwa sechs Wochen vollständig ausgeheilt. Anschließend müssen die Muskeln wieder aufgebaut werden und man sollte die betroffene Region noch etwas schonen. Während der Heilung des Bruchs gibt es eher kleinere Einschränkungen. Man muss zwar mit einem Gipsbein und Krücken humpeln oder mit nur einer Hand auskommen, aber irgendwie geht das schon. Kaum jemand ist die ganze Zeit krankgeschrieben. Außerdem passiert die Heilung von selbst, außer ein wenig Physiotherapie nach Heilung des Knochens muss man selbst wenig dafür tun (außer die Region zu schonen).

Bei psychischen Erkrankungen sieht das ganz anders aus. Eine ausgewachsene depressive Episode dauert bis zu 16 Wochen. Viele psychische Erkrankungen verlaufen chronisch, von einer Heilung kann also gar nicht gesprochen werden, sondern nur von einer Besserung, wenn überhaupt. Auch hier lässt sich die psychische Erkrankung eher mit einer Autoimmunerkrankung vergleichen. Bei einer solchen dauert ein Schub ewig und geheilt werden können sie ebenfalls nicht. Außerdem muss man sich aktiv an der Heilung beteiligen, zum Beispiel durch dauernde Besuche beim Psychotherapeuten. Die Einschränkungen während dieser Zeit sind deutlicher und stärker.

Wie ist das mit der Akzeptanz? Ein gebrochener Knochen an sich ist zwar nicht sichtbar, der Gips oder die Orthese allerdings schon. Man geht im Allgemeinen sehr offen mit gebrochenen Gliedmaßen um, die Geschichte der Entstehung wird berichtet und oft lauschen die Leute andächtig. Sportunfall. Wie cool. So sportlich. Außerdem ist ein gebrochener Knochen medizinisch gut beweisbar, zum Beispiel mit einem Röntgenbild.

Psychischen Erkrankungen fehlt dieser Luxus. Zum einen sind sie nicht sichtbar zu machen (auch nicht mit Hirnscans oder dem Messen des Serotoninspiegels), zum anderen schweigen wir darüber, vor allem über die Entstehung der Erkrankung, die uns selbst häufig gar nicht bewusst ist. Schnell sind also das Wort „Simulant“, und damit einhergehend der Begriff „Stigmatisierung“ da. Wow, auch hier bietet sich eher der Vergleich mit einer Autoimmunerkrankung an.

Wie sieht das mit der Sicherheit im Umgang mit der Erkrankung aus? Gebrochene Knochen kennt der Mensch seit Millionen von Jahren. Psychische Erkrankungen sind zwar genauso alt („Depressionen sind eine direkte Folge des Leistungskapitalismus!“ Nope. Gibt’s schon seit der Steinzeit), in der Vergangenheit waren sie allerdings eher negativ konnotiert, es gab, und gibt noch immer, sehr viel Stigmatisierung und Ausgrenzung. Ein großes Problem dabei ist die Eigenstigmatisierung. Ein*e Betroffene*r merkt zwar recht schnell die eindeutigen Symptome, redet sie aber meistens klein und hasst sich für diese scheinbaren Unzulänglichkeiten. Das Problem: Man geht nicht zum Arzt, wenn man sich für die Symptome hasst und denkt, dass sie auf eine Charakterschwäche zurückzuführen sind.

Wo wir schon beim nächsten Punkt wären. Bei einem gebrochenen Knochen glaubt das direkte Umfeld alles, was der behandelnde Arzt erzählt. Ruhigstellen, Gips dranlassen, Bein hochlegen, das wird brav gemacht und die betroffene Person auch dazu aufgefordert. Der Arzt weiß schon, was er tut. Bei psychischen Erkrankungen ist das, Trommelwirbel, ganz anders. Hier – redet – jeder – mit. Schon mal mit einem gebrochenen Knochen vom Kollegen gehört „Ach, das hatte ich auch mal! Da muss der Gips ab und Sie müssen einfach laufen, dann geht das wieder weg!“ Nein? Aha. Menschen mit psychischer Erkrankung hören das nämlich beinahe täglich. Von Kollegen. Von der Chefin. Von den Eltern. Vom Postboten. Von der Nachbarin. Vom Hausarzt. Von der Tante der Schwester des Cousins der Tierärztin. Einfach jeder hat eine Meinung, einfach jeder hat das Gefühl, diese Meinung auch kundtun zu müssen und einfach jeder hat die Ansicht, dass dieser Meinung auch entsprochen werden muss, weil sonst strengt man sich ja nicht genug an und ist sowieso nur ein Simulant, der eine lächerlich geringe Rente haben möchte, die einem ja gar nicht zusteht, weil Sozialschmarotzer! Gut. Geht wieder.

Woran das liegt, ist übrigens auch ganz einfach zu erklären. Gebrochene Knochen werden seit Jahrtausenden gleich behandelt. Gips/Schiene dran. Ruhigstellen. Warten. Gips/Schiene ab. Fertig. Bei psychischen Erkrankungen ist das etwas anders. Es herrscht eine allgemeine hohe Unsicherheit über die korrekte Behandlung einzelner, spezifischer psychischer Erkrankungen, die obendrein hochindividuell sind. Es gibt einen richtigen Markt von Hochstaplern, die gar nicht wissen, was für einen Unfug die über Depressionen quatschen. Wieso? Weil Depressionen erst seit wenigen Jahrzehnten überhaupt behandelt werden. Es gibt kaum Erfahrungswerte, kaum Langzeitstudien, kaum Therapiemethoden, die wirklich individuell angepasst werden können. Es gibt kaum Studien über die körperlichen Veränderungen bei psychischen Erkrankungen, es gibt erste Schritte, wenn es um Genetik und Gehirnentwicklung geht, aber das sind Baby Steps. Und deshalb ist sich jeder sicher, eine eigene Meinung haben zu müssen, weil die eigene Meinung so schlecht widerlegt werden kann. Klar gibt es Studien zur Wirksamkeit von Verhaltenstherapie, aber es kann immer noch keiner sagen, ob Exposition bei Traumatisierungen wirklich sinnvoll oder nur Nährboden für eine Retraumatisierung ist. Niemand kann sagen, warum und wie Antidepressiva wirken oder ob Benzodiazepine über Jahre eingenommen nicht mehr Schaden als Nutzen bringen. Das weiß keiner. Also scheint jeder irgendwas zu wissen.

Eine psychische Erkrankung ist kein gebrochener Knochen. Gebrochene Knochen passieren einfach, da kann niemand was für, Knochen sind aber auch so verflixt empfindlich, außerdem stellen Gipsbein und Armschiene ja keine so großen Einschränkungen dar. Klar, sie nerven, aber auch mit Gipsbein kann man ja auf Arbeit gehen und von dem Skiunfall berichten.

Eine psychische Erkrankung ist persönliches Versagen. Die hochfragile Seele hat schwere Schicksalsschläge und jahrelangen Missbrauch gefälligst einfach so wegzustecken und man muss das ja nicht jedem unter die Nase reiben. Die Einschränkungen gehen uns alle etwas an, weil man mit einer sechzehnwöchigen depressiven Episode nicht arbeiten gehen kann (wobei viele es trotzdem tun), aber das ist ein Zeichen von Charakterschwäche also machen wir die Person zusätzlich zur Erkrankung einfach nochmal so richtig fertig, weil dann geht’s bestimmt schneller weg. Aber Julia Engelmann hat Recht. Mit einem gebrochenen Bein begeben wir uns souverän und sofort in Behandlung. Wieso dann nicht mit einer gebrochenen Seele? Ach ja, Mangel an Therapieplätzen. Hab ich vergessen.

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