Psychisch krank oder behindert?

„Ich habe meine Depression auch überwunden, du strengst dich nur nicht genug an.“ Diesen Satz darf ich regelmäßig als Reaktion auf etwaige Blogartikel lesen. Ob ich es schon mit dieser oder jener Methode versucht hätte. Ob ich schon Mal an Ort hier oder da gewesen wäre. Und immer der Grundton: Wenn du länger als ein paar Monate eine psychische Erkrankung hast, versuchst du es nur nicht genug.

Tatsächlich kann man die oben genannte Frage ganz einfach beantworten. Laut SGB IX (§ 2 Absatz 1 SGB IX) gelten Menschen als behindert, wenn sie eine körperliche, seelische , geistige oder eine Sinnesbeeinträchtigung haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern können.

Wenn ich also seit 10 Jahren eine diagnostizierte Posttraumatische Belastungsstörung habe, die mich dazu bringt, unbegleitet meine Wohnung nicht mehr zu verlassen, und mein Studium unmöglich macht, dann gilt das als Behinderung. Wenn ich zehn Jahre lang eine psychische Erkrankung habe, die mich aber in meiner allgemeinen Lebensführung nicht allzu sehr einschränkt, ich also zum Beispiel noch einkaufen oder zur Arbeit gehen kann, dann ist das eine chronische Erkrankung.

Bei körperlichen Erkrankungen haben wir diese Diskussion gar nicht. Wenn ein Freund von mir erzählt, er leide unter Colitis Ulcerosa, dann wissen wir: „Aha, chronisch. Wird er nicht mehr los.“ Es gibt körperliche Erkrankungen, die typischerweise als heilbar gelten oder eben nicht. Es gibt solche, bei denen können wir uns sicher sein, dass sie mehr oder weniger von selbst wieder verschwinden (wie Erkältungen). Und es gibt solche körperlichen Erkrankungen, bei denen wir wissen, dass sie mit einer ausreichenden Therapie vermutlich geheilt werden können.

Das können wir eigentlich Eins zu Eins auf psychische Erkrankungen übertragen, wobei es hier leider die Schwierigkeit gibt, dass ein und dieselbe Erkrankung chronisch oder akut verlaufen kann. Die Diagnostikmethoden machen da leider keinen Unterschied. So steht die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung noch immer nicht im ICD. Ob eine psychische Erkrankung chronisch verläuft, ist von ihrer Ursache, ihrem Verlauf und der Dauer abhängig. Eine Angststörung kann in wenigen Wochen austherapiert werden, sie kann aber auch für immer bleiben.

Eine Depression kann durch eine akute Erschöpfung ausgelöst werden, aber auch durch ein lange anhaltendes Trauma. Dementsprechend unterschiedlich ist der Verlauf, ist die Symptomatik, ist die Dauer und damit das Risiko, dass die Erkrankung eben chronisch verläuft.

Bei einer PTBS frage ich mich ehrlich, wie Menschen denken können, dass die restlos verschwinden kann. Eine Posttraumatische Belastungsstörung ist auf ein Trauma zurückzuführen, das tiefe Narben in die Seele prägt und Körper und Geist nachhaltig verändert. Ob eine PTBS allerdings chronisch verläuft, oder ob es nur „Narbenschmerzen“ gibt, ist ebenfalls von einer Vielzahl von Faktoren abhängig.

Da hätten wir einmal das Trauma selbst. Ein einmaliges Schocktrauma kann mit einer guten und früh einsetzenden Psychotherapie gut ausgeglichen werden. Eine Traumatisierung über viele Momente und vielleicht sogar Jahre hinweg, womöglich sogar im frühen Kindesalter, wird man nicht mehr los. Die Therapie richtet sich dann vor allem danach, die Symptome so gering wie möglich zu halten und neue Verhaltensweisen und Gedankenstrukturen zu erlernen. Das ist mühsam, kann aber funktionieren. Manche schaffen es, das Geschehene zu integrieren und ein normales Leben zu führen. Andere schaffen das nicht – und das ist genauso okay.

Vergleichen wir das doch mal mit einem Autounfall (wenn wir schon mal bei dem Thema PTBS sind). Die Frage ist, ob du dir bei dem Aufprall nur das Bein brichst oder es abreißt. Niemand würde einem Prothesenträger vorwerfen, er würde das Wachstum seines zweiten Beins nur nicht genug wollen. Fakt ist, dass bei manchen Traumatisierungen so tiefe Wunden entstehen, dass diese nicht komplett ausheilen können. Dann kann die Erkrankung chronisch verlaufen.

Abhängig ist der Verlauf einer psychischen Erkrankung auch von den auftretenden komorbiden Störungen. Wer eine Depression und eine versteckte Angsterkrankung hat, aber nur wegen der affektiven Störung behandelt wird, zeigt augenscheinlich einen chronischen Verlauf. Irgendwie wollen die Symptome einfach nicht besser, der Alltag nicht leichter werden. Dann hilft die weitere Suche. Woran könnte es liegen, dass die Erkrankung sich einfach nicht bessert? Wurde etwas übersehen?

Es gibt auch psychische Erkrankungen, die allgemein als unheilbar gelten. Persönlichkeitsstörungen oder die Schizophrenie gehören dazu. Diese Erkrankungen verlaufen typischerweise chronisch und man hat sie ein Leben lang. Das bedeutet allerdings nicht, dass es keine Besserung geben kann. Mit einer guten und fundierten Therapie (gegebenenfalls medikamentös unterstützt), ist auch mit diesen Diagnosen ein einigermaßen normales Leben möglich (und was ist schon normal?).

Auch Essstörungen können chronisch verlaufen. Genauso wie bei jeder Suchterkrankung, ist der Suchtdruck bei Essstörungen oftmals sehr hoch. In stressigen Situationen kann das Verlangen nach alten Verhaltensmustern übermächtig werden. Ob man das unter Kontrolle hat und sich alleine aus dem Druck lösen kann, ist individuell. Niemand sollte sich für einen Rückfall schämen. Hilfe suchen sollte man sich allerdings schon.

Manchmal ist es mühsam und hochemotional, sich eingestehen zu müssen, dass man die eigene Erkrankung vielleicht nie wieder loswird. Damit habe ich mich lange Zeit auseinandergesetzt, vor allem auch deshalb, weil ich wirklich noch jung bin und ein langes Leben vor mir liegt (zumindest hoffe ich das). Der Gedanke, eine chronische Erkrankung zu haben, hindert mich aber natürlich nicht am Kämpfen. Ich gehe brav zur Psychotherapie, plane einen stationären Aufenthalt in einer Traumaklinik und übe jeden Tag, meine Symptome zu verstehen und adäquat auf sie zu reagieren. Ob ich die Erkrankung irgendwann wieder loswerde, ist inzwischen nicht mehr meine hauptsächliche Frage. Wie ich wieder ein einigermaßen normales Leben führen kann, das steht im Mittelpunkt.

Für mich geht es nicht darum, ob ich eine Erkrankung habe oder nicht, ob ich als geheilt gelte oder nicht. Heilung ist für mich ein schwieriger Begriff, denn darin steckt irgendwie das Versprechen, nie wieder zu erkranken. Diese Meinung aber hat mich vor ein paar Jahren daran gehindert, mir wegen meiner wiederauftauchenden Symptome erneut psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Wieso? Ich galt doch als geheilt. Es konnte gar nicht wieder da sein!

Heute weiß ich, dass ich eine PTBS habe und das schon seit vielen Jahren. Meine Psychiaterin spricht inzwischen von einem chronischen Verlauf, manchmal sogar von einer Behinderung. Das hat am Anfang ziemlich wehgetan. „Ich bin doch nicht behindert! Ich habe doch nur eine psychische Erkrankung. Andere schaffen es doch auch.“ Die anderen, das bin aber nicht ich. Ich habe meine Erkrankung und nicht ihre. Ich habe meine Geschichte und nicht ihre.

Psychische Erkrankungen, wie Depressionen, Suchterkrankungen, Angststörungen, Essstörungen oder Traumafolgestörungen, können chronisch verlaufen. Sie können in Episoden immer wieder auftreten oder jeden Tag gleichstark sein. Ihre Symptome können durch Therapien verbessert werden, teilweise so gut, dass ein normales Leben möglich ist. Manchmal aber auch nicht und das ist in Ordnung. Es ist nervig, es macht wütend und manchmal raubt es einem jede Hoffnung, aber es ist in Ordnung.

Was es allerdings immer braucht, ist Akzeptanz. „Wie jetzt, du hast das immer noch?!“ ist da weniger hilfreich. Respekt vor der Erkrankung eines anderen Menschen hingegen ist mehr als angebracht. Manche Erkrankungen, körperlich wie psychisch, wird man in diesem Leben nicht mehr los. Man lernt, sich mit ihnen zu arrangieren, zu versöhnen und herauszufinden, was wie mit ihnen möglich ist. Dabei ist der Erkrankte immer der Experte für sich selbst. Spart euch also eure wenig hilfreichen Sprüche und fragt stattdessen, was ihr für die Person tun könnt – nicht nur akut, sondern bei einer chronischen Erkrankung oder einer Behinderung auch in mehreren Jahren.

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