Stereotyp und Diskriminierung

In Verbindung mit Erkrankungen, ob körperlich oder psychisch, fällt früher oder später meistens mindestens einer dieser Begriffe: Stigmatisierung, Diskriminierung, Stereotyp und Vorurteil. Aber was bedeutet das, sprachlich und persönlich?

 

Stigmatisierung

Unter einem Stigma versteht man die Zuschreibung von Eigenschaften oder Merkmalen, die alles andere als nett gemeint sind. Früher war ein Stigma deutlich sichtbar. Im Mittelalter wurde Dieben zum Beispiel eine Hand abgehackt oder Frauen, die der Hurerei bezichtigt wurden, die Haare abrasiert. Im Nationalsozialismus mussten Juden zum Beispiel den sogenannten „Judenstern“ tragen, um weithin als ihrer Religion zugehörig erkannt zu werden. Ein Stigma ist also die Darstellung und Betonung einer Andersartigkeit, eines anormalen Verhaltens oder Seins. Dabei wird das Merkmal über alle anderen Qualitäten gestellt – die Person ist nur noch das Stigma. Es geht um Abwertung und Zurschaustellung von Menschen, die anders sind, als sie einer sozialen Gruppe nach sein sollten. Zu den heutigen typischen Faktoren, die in unserer Gesellschaft stark stigmatisiert sind, gehören Obdachlosigkeit, Vorstrafen, Armut, die sexuelle Orientierung, Gruppenzugehörigkeit (wie Nationalität oder Religion) oder eben Behinderungen oder Erkrankungen.

Neben der Fremdstigmatisierung, also dem Zusprechen und Betonen eines Stigmas durch andere Personen, gibt es noch die Selbststigmatisierung, ein recht trauriges Phänomen. Dabei neigt der Mensch dazu, die Stigmatisierungen von außen zu übernehmen und gegen sich selbst zu richten. Aus einem „Du bist nicht depressiv, du bist nur faul“ wird somit ganz schnell ein „Ich bin nicht depressiv, ich bin nur faul.“ Vor allem Kinder übernehmen die Meinungen des Umfeldes beinahe ungefiltert. Sie sind noch darauf angewiesen, von außen zu lernen, und verinnerlichen leider auch negative Gedankeninhalte, die im Erwachsenenalter mühsam wieder aus dem Kopf gesammelt werden müssen.

Eine Möglichkeit, um Stigmatisierung zu erfassen, ist die sogenannte „Soziale Distanz“. Personen werden gefragt, ob sie die Menschen mit dem bestimmten stigmatisierten Merkmal in ihrer Nähe haben wollen – als Nachbarn, Kollegen, Mitarbeiter, Mitbewohner, Schwiegertochter/-sohn und so weiter.

 

Diskriminierung

Diskriminierung ist mehr oder weniger die direkte Folge von Stigmatisierung. Menschen, die anormale Eigenschaften oder Merkmale aufzeigen und die man irgendwie auch nicht in der eigenen Nähe haben möchte, werden herabgewürdigt und benachteiligt. Das basiert nicht selten auf höheren sozialen Überzeugungen. Ich sage nur „unwertes Leben“ im Nationalsozialismus. Oder um einen Professor von mir zu zitieren: „Ich verstehe eh nicht, warum Menschen mit psychischer Erkrankung Psychologie studieren dürfen.“

Was ein Begriff bedeuten soll, kann am besten aus der Wortherkunft abgeleitet werden. Ein Stigma ist ein Wundmal, also eine Unzulänglichkeit. Diskriminierung wiederum bedeutet „Scheidung“ oder „Absonderung“. Dabei ist auch diese Form der menschlichen Gemeinheit selbstverständlich im Negativen zu verstehen.

Soziale Diskriminierung, die angeblich selbstverschuldet ist (wie Einkommen oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht), wird eher toleriert als Verhalten und Merkmale, die nicht als selbstverschuldet wahrgenommen werden (wie Geschlecht oder Ethnie). Trotzdem ist Diskriminierung bei beiden angeblichen Verschuldungsarten weit verbreitet. Am auffälligsten ist vermutlich die strukturelle Diskriminierung. Dabei liegt das Problem in der gesamten Gesellschaft, die eine oder mehrere Teilgruppen diskriminiert. Zur strukturellen Diskriminierung gehört zum Beispiel die schlechtere Bezahlung von Frauen in gleichwertigen Berufen oder dass Menschen mit psychischen Erkrankungen selten genug im ersten Arbeitsmarkt landen.

Zu den Formen der individuellen Diskriminierung gehören Stereotype und Vorurteile. Jeder Mensch hat bestimmte Vorstellungen von spezifischen Gruppen und deren Angehörigen. Fußballfans sind dümmer als der Durchschnitt der Gesellschaft. Männer sind potentiell gefährlich. Frauen können schlechter einparken. Diese Gedanken sind schnell in unserem Kopf und damit unbewusst oft auch in unserem Verhalten. Was viele nicht wissen: Wenn man sich der eigenen Vorurteile bewusst wird, kann man entscheiden, ob man sie sich sparen oder sie ausleben will. Denn Vorurteile sind veränderbar.

 

Stereotyp

Ein Stereotyp ist eine allgemeine Meinung oder Überzeugung von einem Menschen oder seiner Gruppe. Die Darstellung ist dabei recht einfach gehalten und die Person oder Gruppe wird auf wenige Merkmale reduziert. Personen in Gruppen verlieren ihre Individualität. Wir stecken Dinge halt gerne in Schubladen (als Deutscher ist man ja ordentlich). Nur leider bilden die auch gerne mal alles andere als die Realität ab: Ich bin nicht sehr ordentlich, ich schlafe gerne aus, habe einen ausgeprägten schwarzen Humor und komme gerne mal unpünktlich. Ich bin also alles andere als Deutsch, oder?

Stereotyp, das ist das, was dir als Erstes in den Kopf ploppt, wenn du einen Begriff hörst. Wir probieren das mal aus: Ausländer – Ire – Rollstuhlfahrerin – Professorin – Postbote – Borderlinerin. Bei jedem dieser Gruppen ist dir sicher die ein oder andere typische Eigenschaft eingefallen. Welche genau, das ist von deiner Erfahrung, Erziehung, sozialen und kulturellen Herkunft und vielen weiteren Faktoren abhängig.

Evolutionär gesehen ist das gar nicht mal so doof. Wenn mein Körper schneller als mein Kopf weiß, dass ein Säbelzahntiger gefährlich ist, dann laufe ich eher weg und überlebe mit einer höheren Wahrscheinlichkeit. Grundsätzlich sind die wichtigsten Teile unseres Gehirns sehr einfach gestrickt. Wir lernen etwas (durch die Menschen um uns herum oder unsere eigene Erfahrung) und merken uns das fürs nächste Mal. Wir haben zwar auch Regionen in unserem Schädel, die etwas differenzierter sind, aber die brauchen tendenziell länger und mehr Energie. Stereotype müssen übrigens nicht grundsätzlich negativ sein. Auch positive Attribute können wir unseren Mitmenschen zuschreiben. Frauen sind empathischer. Männer können gut Auto fahren. Kinder sind lustig.

 

Vorurteil

Das Vorurteil ist dem Stereotyp relativ ähnlich. Auch hier kann man im Begriff schon alles herauslesen, was wichtig ist: Vor-Urteil. Es ist die Beurteilung von Menschen oder Gruppen, bevor diese überhaupt etwas dagegen tun oder sagen können. Dabei werden Vorurteile nicht hinterfragt oder überprüft. Auch Vorurteile können positiv oder negativ sein, wobei die negative Verwendung vermutlich die Überhand hat. Was den Vorurteilen entsprechend folgt, sind bestimmte Verhaltensweisen. Wenn ich denke, dass ein Mensch mit Behinderung grundsätzlich dumm ist, spreche ich langsamer mit ihm. Wenn ich denke, dass ein Mensch mit Migrationshintergrund gefährlich ist, wechsle ich die Straßenseite, wenn er mir entgegenkommt. Positive Vorurteile hingegen werden häufig für Werbung genutzt. Der Mann in der Hipp-Werbung, der mit seinem Namen für irgendwas steht, ist vertrauenswürdig. Der Callcenter-Mitarbeiter von 1&1 ist besonders kompetent. Die Mitarbeiter von EDEKA sind besonders witzig und freundlich. Wir lassen uns gerne von so etwas beeinflussen.

Vorurteile haben den Stereotypen gemein, dass sie schnell im Kopf sind. Der Grund ist derselbe: Einfache Strukturen erleichtern uns die Verhaltensauswahl. Gefährlich = weglaufen. Nett und freundlich = da einkaufen, weil wir uns da gut beraten und sicher fühlen. Dabei können wir uns nicht immer stundenlang über alles informieren, womit wir konfrontiert werden und Ausprobieren ist vielleicht auch nicht immer die beste Entscheidung. Vorurteile haben den Vorteil, dass sie uns ab und an auch das Leben retten können. Trotzdem birgt die starke Verallgemeinerung eines Klischees die Gefahr, dass wir andere unfair behandeln oder ihnen sogar schaden. Denn einem Vorurteil fehlt immer vor allem eins: Eine Argumentationsgrundlage. Oder um es mit den Worten eines Dothraki (für alle „Game of Thrones“-Fans) zu sagen: „Ne nem nesa“ – „Das ist bekannt.“

 

Warum gibt es das überhaupt?

Alle diese Dinge – Stigmatisierung, Diskriminierung, Stereotype und Vorurteile – sind auf zwei Faktoren zurückzuführen: Unwissenheit und Abgrenzung.

Unwissenheit basiert schlicht auf fehlenden Erfahrungen und Informationen über die stigmatisierte Gruppe. Wer angeblich noch nie etwas mit einem psychisch kranken Menschen zu tun hatte, kennt sich damit auch nicht aus. Wie verhalte ich mich? Was darf ich sagen? Was sollte ich nicht tun? Diese Unsicherheit aufgrund mangelnden Wissens führt zu einer Ablehnung („Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“) und Bevormundung. Weil es keine ausreichenden Informationen gibt, malen viele sich ihr eigenes Bild über die Gruppen. Gut ist das nicht. Naheliegend schon.

Die zweite Ursache liegt im sogenannten „In-Group/Out-Group“-Problem. Wir fühlen uns gerne bestimmten Gruppen zugehörig – unserer Familie, unserem Unternehmen, unserem Fußballverein, unserer Stadt, unserer Nationalität, unserer Religion. Die Schwierigkeit dabei: Um die eigene Gruppe als besonders wertvoll anzusehen (warum sollten wir sonst drin sein), werten wir andere Gruppen gerne ab. Teilweise haben wir sogar existenzielle Angst davor, diese fremde Gruppe könnte auf uns abfärben, was natürlich die Großartigkeit unserer eigenen Gruppe dezimieren würde. Psychische Erkrankungen sind nicht ansteckend? Manche denken das. Aber wieso?

Da gibt es dieses „Victim Blaming“. Schon mal davon gehört? Frei übersetzt bedeutet „Victim Blaming“ die Abwertung von Opfern. Die Frau, die sexuell missbraucht wurde, hat einen viel zu kurzen Rock getragen. Depressive werden depressiv, weil sie immer so traurig sind und sich selbst runterziehen. Nach was suchen viele, wenn nicht sogar die meisten, wenn sie eine schlechte Nachricht hören? Genau: Nach Selbstverschulden. Warum tun wir das? Dieses Phänomen hat vor allem etwas mit unserer heilen Welt zu tun. Wir fühlen uns gut, es geht uns gut und dann passiert irgendwem ein Unglück. Das passt nicht in unser Denken! Da wir aber kognitive Dissonanz verhindern möchten, alles also in unser heiles Weltbild passen soll, werten wir die Opfer der Katastrophe ab. Damit bestätigen wir uns selbst, dass uns das ja nicht passieren kann. Wir brauchen dieses Denken, um uns sicher zu fühlen. Vor allem geschieht dieser Automatismus übrigens bei Personen, die uns relativ ähnlich sind. Psychotherapeuten wollen nichts von Kollegen wissen, die zum Beispiel unter einer Panikstörung leiden. Teilweise werden letztere regelrecht aus der Gemeinschaft herausgebissen.

Natürlich ist das alles andere als gesund und fair den Opfern gegenüber ist es selbstverständlich auch nicht. Denn wozu führt Victim Blaming? Weil die Menschen, denen etwas Schlimmes passiert, ja selbst daran schuld sind, müssen wir uns nicht um sie kümmern. Sie haben es ja verdient. Mit dem Denken gäbe es keine Opferentschädigung, es gäbe keine Gerichtsverfahren (oder sie würden eingestellt werden) und Therapeuten gäbe es grundsätzlich sowieso nicht. Zum Glück denken wir im Großen und Ganzen doch ein bisschen anders – zumindest bei körperlichen Erkrankungen, weil die mehr Personen betreffen. Das ist auch der Grund dafür, warum wir mit Rückenschmerzen relativ zeitnah einen Therapeuten finden und mit einer Angststörung mehrere Monate warten dürfen.

Stigmatisierung, Diskriminierung, Stereotype, Vorurteile – all das ist für diejenigen, die davon nicht betroffen sind, einfach und angenehm. Für diejenigen, die aber gemeint sind und die unter diesen Faktoren leiden, ist es oftmals die Hölle. Klar ist es schön, nicht lange nachdenken zu müssen, aber ist es auch fair? Vermutlich nicht. Denn wenn man bedenkt, dass vermutlich jeder Mensch irgendeiner Minderheit oder diskriminierten Gruppe angehört, ist dieses Verhalten dann doch gar nicht mehr so gut.

Wir sollten öfter nachdenken, woher unsere Überzeugungen kommen. Sind sie gerechtfertigt? Können sie anderen schaden? Bewahren sie uns vor irgendetwas oder beschränken sie uns nur? Denn allen evolutionär sinnvollen Fähigkeiten gemein ist, dass sie die Realität oft nicht hinreichend genug abdecken. Alle Menschen sind Individuen. Die eine Person mit psychischer Erkrankung hat mit der anderen vielleicht gar nichts gemeinsam, außer der Erkrankung. Da sind noch tausende andere Eigenschaften, die vergessen werden, wenn wir Menschen auf ein Merkmal reduzieren.

Stigmatisierung, Diskriminierung, Stereotype, Vorurteile – Diese Faktoren müssen wir hinterfragen, vor allem, wenn sie strukturell sind. Wir können es uns nicht leisten, bestimmte Gruppen grundsätzlich auszugrenzen oder zu unterdrücken, denn wir brauchen ihre Fähigkeiten und Qualitäten.

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