Psychotherapeutensuche

Drei Jahre. 1095 Tage. Die Zahl scheint irrwitzig, beinahe übertrieben. So lange habe ich gesucht. Ich habe hunderte Telefonate geführt, dutzende E-Mails geschrieben, immer wieder erklärt, wie schlecht es mir geht, dass ich bitte Hilfe will – und doch weiterwarten muss. Drei Jahre. Das ist ein ganzes Bachelorstudium. Hätte ich damals ein Kind bekommen, es könnte jetzt Fahrrad fahren, auf einem Bein hüpfen oder in ganzen Sätzen sprechen.

Ich stelle mir vor, ich hätte eine andere Diagnose. Beim Arzt hätte ich die Bestätigung bekommen, dass ich dringend behandlungsbedürftig bin und am besten sofort mit der Therapie beginnen soll. Bandscheibenvorfall – sofort eine Reha und danach für eine lange Zeit Physiotherapie! Gebrochenes Bein – Gips drum, lange ruhigstellen und anschließend langsam wieder mit der Belastung beginnen. Aber eine Posttraumatische Belastungsstörung ist kein Bandscheibenvorfall und eine Depression ist kein gebrochenes Bein.

Mit einer Depression soll man alleine klarkommen und bei einer Angststörung sich nicht so anstellen. Schokolade essen soll helfen oder mal in den Urlaub fahren, das kann doch zuerst probiert werden, bevor gleich so übertrieben und nach einer Psychotherapie gesucht wird. Ich wusste, dass das anders ist, denn ich hatte die ganze Aufregung schon einmal hinter mich gebracht. Ich war als geheilt oder zumindest hinreichend stabilisiert aus einer Psychotherapie geschritten, fühlte mich stark und unaufhaltbar. Bis sie zurückkamen, die Symptome. Bis ich einsehen musste, dass ich es alleine nicht schaffen würde. Das ist drei Jahre her.

An das erste Telefonat kann ich mich gut erinnern, es war mit der Frau, die mich nachhaltig traumatisieren sollte. Ja, eine Psychotherapeutin. Ihre Praxis war im Haus nebenan, das erachtete ich als sehr praktisch. In der zweiten Sitzung behandelte sie mich auf eine Art und Weise, die mich in eine sechsstündige Dissoziation stürzte und mich fortan sehr skeptisch gegenüber Psychotherapeuten werden ließ. Monatelang rief ich nirgendwo mehr an, lag auf meinem Sofa, rutschte von einem Flashback ins andere, zog Parallelen von der Therapeutin zu meiner Vergangenheit und kam nicht mehr heraus. Ich zeigte sie bei der zuständigen Psychotherapeutenkammer an, sie bekam eine Verwarnung, heute behandelt sie noch immer.

Als ich nach vielen Monaten wieder Mut fasste und mir nach wie vor klar war, dass ich nicht alleine aus diesem Tief herauskommen würde, griff ich erneut zum Telefonhörer. Nein, ich griff zuerst zu meinem Laptop. Ich suchte alle Therapeuten im Umkreis von 30 Kilometern heraus, notierte mir ihre Namen, Telefonnummern und Therapieausrichtungen in einer Excel-Tabelle und sortierte sie nach persönlicher Präferenz. Letzteres hätte ich mir ehrlich sparen können. Wieso?

Von oben begann ich. Selbst, wenn ich bei den angegebenen Sprechzeiten (die ja inzwischen verpflichtend sind) anrief, erreichte ich höchstens den Anrufbeantworter. Ich lauschte auf die Stimme, die da sprach, versuchte, Sympathie herauszuhören oder vielleicht sogar Professionalität. Dann startete ich mit meinem Monolog.

„Ja Hallo, Zoller mein Name (nach der Hochzeit im Mai 2018 dann Faulhammer), ich rufe an, weil ich dringend einen Psychotherapieplatz suche. 2012 wurden bei mir eine Posttraumatische Belastungsstörung, eine Agoraphobie und eine Depression diagnostiziert und die Symptome sind inzwischen wieder sehr stark geworden. Ich kann mehr oder weniger gar nicht meine Wohnung verlassen und leide unter Flashbacks und Dissoziationen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich kurz zurückrufen könnten. Vielen Dank und einen schönen Tag noch!“

Was folgte, war eine von fünf Optionen.

1.)  Keine Reaktion - Weder ein Rückruf, noch sonst irgendetwas

2.)  Rückruf ohne Warteliste – Sie würden mir gerne etwas anbieten, haben aber im Moment keinen Platz und führen auch keine Warteliste

3.)  Rückruf ohne Eignung – Sie könnten meine Erkrankung nicht behandeln

4.)  Rückruf mit Warteliste – Sie freuen sich, dass ich bei Ihnen eine Psychotherapie beginnen möchte, aber erst in sechs, acht, zwölf Monaten

5.)  Rückruf mit Erstgespräch – Wir könnten gerne in der nächsten Woche einen ersten Kennenlerntermin ausmachen

Bei den ersten beiden Rückmeldungen bedankte ich mich höflich und wollte doch in den Hörer schreien: „Ich brauche Hilfe!“ Natürlich kamen diese Worte nie über meine Lippen, was hätte es auch gebracht? Einmal blieb ich hartnäckig und fragte nach, ob man da wirklich gar nichts machen könne. Als Antwort erhielt ich eine Empfehlung für die örtliche Psychiatrie. Ob es da Psychotherapie gibt, fragte ich. Nein, wurde eingeräumt. Ob ich da auch hinkönne, wenn ich nicht akut selbstgefährdet bin, hakte ich nach. Nein, war die Reaktion. Dass mir das ja nicht helfen würde, erklärte ich. „Halten Sie durch.“ – dann legte sie auf.

Durchhalten. Irgendwie. Jeden Tag ein bisschen länger. Selbst um das Leben kämpfen, wie ein Ertrinkender, dem der Rettungsring verwehrt wird. Leben. Sich festhalten an den wenigen schönen Dingen. Kämpfen. Jede Sekunde kämpfen. Merken, wie die Kräfte schwinden. Trotzig bleiben. Noch eine Nummer anrufen, der/die/das kann mir sicher helfen. Menschen kennenlernen. Hoffnung schöpfen. Aufgeben. Und immer wieder der Satz: „Halten Sie durch.“

Oder: „Wenn Sie die Hilfe nicht wollen, dann brauchen Sie sie wohl auch nicht.“ Ich führte Erstgespräche, bekam Therapieplätze angeboten, teilweise noch am nächsten Tag. Allerdings ist das Wichtigste bei einem Therapeuten-Patienten-Verhältnis das Vertrauen und die Sympathie. Manchen durfte ich beim ersten Treffen erklären, was eine Dissoziation ist. Bei manchen hatte ich auch nach der vierten Sitzung das Gefühl, gar nichts zu tun und überhaupt nicht voranzukommen. Mit einer Therapeutin unterhielt ich mich jede Stunde über ihre Hunde und ihre Kinder (in dieser Reihenfolge). Also ging ich nicht mehr hin. Ich bedankte mich und erklärte, dass es für mich nicht passte. Ich solle nicht so mäkelig sein, antworteten sie. Ich würde ja gar keine Hilfe wollen, nur Aufmerksamkeit. Wie ich es wagen könne, ihre Professionalität anzuzweifeln.

Wie oben ersichtlich wird, riefen mich auch manche Therapeuten zurück und erklärten mir, dass sie grundsätzlich keine traumatisierten Menschen behandeln möchten. Sie würden sich damit nicht wirklich auskennen. Das fand ich fair und ehrlich, aber auch traurig. Mit einer Angststörung allein hätten sie mich aufgenommen. Vielleicht hätte es sogar gut gepasst. Aber mit einer PTBS, die schon so lange anhält und bei der wenig zu helfen scheint, ist es in meinen Augen ziemlich schwer, einen passenden Therapieplatz zu finden. Eine Traumatherapie ist für mich Wunschdenken, das niemals in Erfüllung gehen wird. Der nächste Traumatherapeut wäre drei Stunden entfernt von meinem Wohnort (mit dem Auto), einen freien Platz habe er sowieso nicht, eine Warteliste führe er nicht mehr, dann wäre er bis 2100 ausgebucht.

„Gehen Sie doch in eine Klinik“, empfahlen mir manche. Also suchte ich mir eine Klinik. Auch da wollte ich dieses Mal anspruchsvoll sein, ich gebe es zu. 2012 war ich in einer psychosomatischen Klinik gewesen, das war auch sehr schön, nur bei meiner Traumatisierung konnten sie mir nicht wirklich helfen, waren dafür nicht ausreichend ausgestattet. Also suchte ich nach einer Traumaklinik. Ich wurde recht schnell fündig, diese eine, die sollte es werden.

Ich ging zu meinem Hausarzt und erklärte ihm, warum ich in eine Traumaklinik gehen wollte. Er wusste bereits von meinen Problemen, füllte den Antrag für die Krankenkasse aus. Das war im Oktober 2017. Meine Krankenkasse antwortete mir recht schnell, dass mein Antrag an die Deutsche Rentenversicherung weitergeleitet worden war. Da ich allerdings noch Studentin war, musste der Antrag über einen Elternteil von mir erfolgen. Zähneknirschend füllte ich den Antrag für die Rentenversicherung mit meinem Vater aus. Der Aufenthalt 2012 war über meine Mutter gelaufen, wir wollten einen Ausgleich schaffen.

Monate später wurde mir ein Aufenthalt bewilligt, allerdings in einer Klinik, die auf Depressionen spezialisiert war. Da diese Erkrankung mein geringstes Problem darstellte, fragte ich bei der Rentenversicherung an, ob denn die Traumaklinik nicht besser geeignet wäre. Sie gaben mir Recht, das wäre wirklich schön, nur würde die Deutsche Rentenversicherung diese Klinik nicht belegen.

Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich bis jetzt noch nicht mein Studium geschmissen habe. Inzwischen hatte ich per Zufall meine Psychiaterin gefunden. Im April 2018 war ich so verzweifelt, dass ich wieder mit der Telefonliste der Psychiater der Stadt anfing. Die hatte ich zwar vor einem Jahr schon alle kontaktiert, aber was blieb mir anderes übrig? Und siehe da: Die eine Praxis war gerade von einer jungen, neuen Psychiaterin übernommen worden, weil der alte Psychiater in Rente gegangen war. Sie hatte zufällig einen Termin frei, weil eine andere Patientin ihre Behandlung beendet hatte. Der Termin war zwei Tage später. Eine Psychotherapie konnte sie mir leider auch nicht anbieten, aber endlich ein qualifiziertes Ohr, das zuhörte.

Zusammen mit ihr füllte ich einen erneuten Antrag an die Krankenkasse aus. Ich wollte in diese Klinik. In dem Antrag betonte ich noch einmal, dass die Krankenkasse für mich als Studentin zuständig war für Rehabilitationsmaßnahmen und siehe da – sie willigte ein. Ich dürfe gerne in diese tolle Traumaklinik gehen. Aber: Der Bescheid hat nur eine Gültigkeit von sechs Monaten. Danach muss gegebenenfalls darüber entschieden werden, ob er verlängert wird. Die Klinik hat Wartefristen von sechs bis neun Monaten. Jetzt warte ich und habe Angst davor, dass der Bescheid nach sechs Monaten eben nicht verlängert wird. Dann könnte ich von vorne anfangen. Die Aufnahme ist voraussichtlich irgendwann zwischen Mai und August 2019.

Irgendwie schäme ich mich dafür, dass ich so lange die offensichtlichste aller Lösungen übersehen habe. Ich studiere seit 2013 Psychologie in dieser Stadt, fast alle fertigen Psychologiestudis, die eine Therapeutenausbildung anstreben, bleiben hier. Es gibt nämlich ein Ausbildungsinstitut in der Stadt.

„Wie jetzt, die machen auch Psychotherapie?!“, schrie ich eines schönen Nachmittags durch das Viertel. Mein Mann fiel im Nebenzimmer fast vom Stuhl. Ja, in dem Ausbildungsinstitut wurde auch Psychotherapie angeboten. Übernommen wird die von PiAs, also Psychotherapeuten in Ausbildung. Ob die qualifiziert waren, mit einer chronischen Posttraumatischen Belastungsstörung umzugehen, wusste ich nicht, aber einen Versuch war es wert.

Im selben Monat, in dem ich meine Psychiaterin gefunden hatte, rief ich also bei dem Institut an und schilderte meinen Fall. Das war gar nicht so einfach. Eine Anmeldung war nur montags zwischen 17.00 und 19.00 Uhr möglich. Die ersten beiden Montage kam ich überhaupt nicht durch. Beim dritten Versuch hatte ich endlich jemanden an der Leitung. Ich ratterte meinen Standardtext herunter und bekam im Anschluss eine E-Mail mit Aufnahmebogen. Dort sollte ich schildern, worunter genau ich eigentlich leide, ob ich derzeit überhaupt therapiefähig bin und so weiter. Lange Zeit kam keine Reaktion. Dann erhielt ich das Angebot eines Erstgesprächs im Juni. Dort schilderte ich ein drittes Mal, warum ich eine Psychotherapie brauchte und beantwortete einige Fragen über Symptomatik, allgemeines Leben und ob ich aktuell suizidal bin.

Dann wartete ich weiter. Zehn Monate lang. Der Sommer kam und ging, der Herbst kam und ging, der Winter kam und ging zum größten Teil. Im Februar erhielt ich dann einen Anruf von einem PiA, dass er jetzt mein neuer Psychotherapeut ist und wann ich Zeit für ein erstes Gespräch mit ihm hätte. Wäre es möglich gewesen, ich hätte ihm durch das Telefon die Füße geküsst. Wir vereinbarten einen Termin für den 12. Februar 2019. Weil es gut geklappt hat und ich mich gleich gut aufgehoben gefühlt habe, bin ich jetzt offiziell Patientin. Ich habe einen passenden Psychotherapieplatz gefunden – nach drei Jahren Suche.

Bei einer Psychotherapie muss sehr vieles passen. Die Sympathie zwischen Patient und Therapeut ist entscheidend. Die Qualifikation des Therapeuten für genau diesen Symptomkomplex ist genauso wichtig. Zeitliche und örtliche Faktoren können über Möglichkeiten bestimmen. Zu meinem neuen Psychotherapeuten muss ich neunzig Minuten mit dem Auto fahren, mein Mann muss mich begleiten. Der Psychotherapeut hat aber nur vormittags Termine, also muss mein Mann sich für diese Zeit von der Arbeit freistellen lassen. Hätte er nicht so einen großartigen Chef, ich müsste die Psychotherapie schon wieder aufgeben und meine Suche von vorne beginnen.

Eine Posttraumatische Belastungsstörung ist kein Bandscheibenvorfall und eine Depression kein gebrochenes Bein. Oft habe ich mir in diesen drei Jahren gewünscht, das eine mit dem anderen tauschen zu können. Ich wollte behandelt werden. Ich habe Hilfe gebraucht. Ich war in dieser Zeit beim Sozialpsychiatrischen Dienst, bei der EUTB und bei der Beratungsstelle meiner Universität. Aber sie alle ersetzen keine Psychotherapie. Ich habe mich an dem bisschen festgekrallt, was ich noch hatte, denn die Alternative wäre Aufgeben gewesen und Aufgeben hätte den Tod bedeutet.

Jedes Jahr sterben 10.000 Menschen durch Suizid. 90 Prozent davon litten unter einer ernsten, psychiatrischen Erkrankung. Wie viele dieser Leben hätten gerettet werden können, wenn man den Menschen qualifizierte, unbürokratische und schnelle Hilfe angeboten hätte? Der einzige Grund für mich, nicht aufzugeben, war mein Mann. Ohne ihn würde ich heute nicht mehr hier sitzen. Mein Mann, ein Elektrotechnikingenieur, musste die Hilfe übernehmen, die ich durch einen qualifizierten und gut ausgebildeten Psychotherapeuten gebraucht hätte.

Ich bin das, was man vermutlich einen „schweren Fall“ nennt. Nicht, weil es mir so schlecht geht, sondern, weil meine Symptome so komplex und tief in Seele und Körper verankert sind. Ich bin eine von denen, die laut Gesundheitsministerium schneller an einen Termin herankommen sollen. Ich habe schnelle Termine bekommen. Irgendwo wäre ich schon untergekommen – aber nicht bei jemandem, der sich mit meiner Erkrankung wirklich gut auskennt und bei dem ich mich gut aufgehoben gefühlt hätte. Ich brauche keine schnelle Psychotherapie, ich brauche die Wahl. Ich brauche einen Therapeuten, dem ich vertrauen kann und bei dem ich mich gut aufgehoben fühle. Ja, ich brauche einen männlichen Therapeuten, aufgrund meiner Traumatisierung.

Der nächste Psychotherapeut ist von meinem neuen Wohnort (mitten in der Pampa) 60 Minuten entfernt. Ob er sich mit Traumatisierungen auskennt, weiß ich nicht. Ob und wann ich endlich meinen Aufenthalt in der Traumaklinik beginnen kann, weiß ich nicht. Ob ich jemals bei einem spezialisierten Traumatherapeuten unterkomme, das weiß ich. Werde ich nicht. Niemals. Weil es hier im Umkreis keinen gibt.

Ich habe drei Jahre lang gesucht. Ich habe drei Jahre lang gezweifelt und gehofft, aufgegeben und von neuem begonnen. Ich habe geweint, gelacht, geheiratet, gegen meine Symptome gekämpft, um mein Studium, um meine Existenz. Nach drei Jahren kann es endlich losgehen. Meine Psychotherapie läuft. Sie lohnt sich auch wirklich, denn inzwischen ist meine Erkrankung chronisch.

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