Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Manche muss man zuerst reinigen und verbinden. Sonst macht sie die Zeit nämlich schlimmer.
Ich hatte mal eine Wunde. Sie war eigentlich gar nicht so groß und recht unscheinbar, obwohl sie geblutet hat. Ich weiß gar nicht mehr, wer sie mir zugefügt hat, aber irgendwann war sie eben einfach da. Wenn man oft genug auf dieselbe Stelle schlägt, platzt die Haut auf. So war es bei mir. Es war also gar keine einzelne Person, die für die Wunde verantwortlich war. Ich habe ja nie gesagt: „Stopp, hör auf da draufzuhauen!“
Ich habe mich nicht weiter um die Wunde gekümmert. Irgendwann hat sie wohl aufgehört zu bluten. Ich habe sie nicht verbunden. Ich dachte ja, dass sie nicht sehr groß ist. Als sie anfing zu eitern, zog ich meine Kleidung darüber. Ich wollte sie nicht die ganze Zeit sehen und immer daran denken, wie ich verletzt wurde. Natürlich heilte die Wunde dadurch nicht. Aber ich bemerkte sie kaum noch. Sie schmerzte zwar, aber nicht immer und eben irgendwie stumpf. Ich gewöhnte mich daran und machte einfach weiter mit meinem normalen Alltag.
Dadurch, dass man die Wunde nicht sehen konnte, schlugen die Menschen immer weiter darauf. Manchmal kamen sie auch aus Versehen dran und dann schrie ich, dass sie das lassen sollen. Sie verstanden mich nicht, denn sie sahen ja die Wunde nicht. Aber ich fühlte sie, denn bei jeder Berührung schmerzte sie. Ich hasste die Wunde dafür, denn ich wollte sie nicht haben. Derweil eiterte die Wunde munter weiter. Als sich der Eiter durch die erste Kleidungsschicht gefressen hatte, zog ich einfach noch eine darüber.
So ging das eine ganze Weile, bis die Wunde meinen Körper vergiftete. Zunächst das umliegende Gewebe, dann führte sie zu einer Blutvergiftung. Ich drohte zu sterben. Inzwischen war ich schon ganz schwach vor Schmerz, ging aber trotzdem immer weiter. Wie hätte ich auch erklären sollen, dass ich eine Verletzung habe? „Sowas Schwaches!“, hätten doch alle nur gesagt. Ich wollte nicht schwach sein. Bis die Wunde mich beinahe tötete.
Ich ging nicht selbst zum Arzt, meine Eltern fuhren mich. Sie hatten bemerkt, wie schlecht es mir in letzter Zeit ging. Ich wollte mir das gar nicht eingestehen. Blutvergiftung? Sowas bekomme ich doch nicht! Vollkommen entkräftet kam ich beim Arzt an. Der verschrieb mir Ruhe und ein Antibiotikum. Ich wollte eigentlich nur schnell wieder gesund werden und fragte ungeduldig, wie lange so eine Heilung denn brauchen könnte. „Eine Weile“, sagte der Arzt. Damit musste ich mich wohl zufriedengeben.
Im sicheren und sauberen Arztzimmer mussten wir zuerst die Kleidungsschichten von der Wunde trennen. Alles, was ich zur Abdeckung benutzt hatte, um die Wunde bloß nicht sehen zu müssen, war langsam mit eingewachsen und musste herausgeschnitten werden. Dann wurde der Eiter entfernt. Die Wunde wurde ausgeschabt. Die ganze Zeit schrie ich vor Schmerz. Ich wollte das nicht ertragen. Ich wollte einfach nach Hause gehen und die Wunde vergessen. Aber ich wusste auch, dass ich jetzt hier durch musste, sonst würde es nicht besser werden.
Außerdem wurde die Wunde gereinigt und abschließend steril verbunden. Ich musste sie ja doch nicht die ganze Zeit anstarren. Ich durfte ein paar Tage im Krankenhaus bleiben und mich ausruhen. Die Wunde brannte schrecklich und ich schlief sehr viel. Täglich wurde der Verband gewechselt und die Wunde gesäubert. Ich lernte, auf mich selbst zu hören und darauf, wie stark ich meinen Körper mit der Wunde belasten konnte. Ich lag viel im Bett und unterhielt mich mit den Ärzten. „Sie hätten viel früher kommen sollen“, sagten sie mir. Ich nickte nur und wusste gar nicht mehr, warum ich das alles so lange stumm ertragen hatte.
Langsam heilte die Wunde und mit ihr mein ganzer Körper. Die Medikamente halfen gegen die Blutvergiftung und unterstützten die Wundheilung. Ich fühlte mich besser und konnte endlich wieder den Sonnenschein draußen genießen. Seltsam. Hatte die jeden Tag geschienen? Sie war mir vor lauter stummem Schmerz gar nicht aufgefallen. Noch immer wurde die Wunde regelmäßig neu verbunden und jedes Mal schaute ich sie mir tapfer, obwohl ängstlich, an. Die Ränder schlossen sich langsam und ein leiser Rosaton war an die Stelle des Eiters getreten. Sie sah gut aus und ich bemerkte, dass ich jetzt bald mit ihr leben könnte. Ich freute mich und beobachtete mich selbst dabei, wie ich lächelte. So lange hatte ich nicht mehr Freude empfunden. Es fühlte sich gut an.
Nach ein paar weiteren Tagen wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Die Wunde hatte sich soweit geschlossen, dass ich mich jetzt alleine um sie kümmern konnte. Trotzdem sollte ich noch regelmäßige Kontrolltermine wahrnehmen. Motiviert ging ich also einmal die Woche zum Arzt, um mit ihm über die Wunde zu sprechen.
So kamen wir auch darauf, wie sie überhaupt entstehen konnte. „Es ist wichtig, dass da keiner mehr draufhaut, und sonst natürlich auch nirgendwo“, sprach mir der Arzt ins Gewissen. Ich stimmte zu. Niemals wieder sollte mir jemand so wehtun. Und niemals wieder würde ich es einfach ertragen.
Die Wunde war inzwischen zu einer selig rosafarbenen Narbe verheilt. Wenn es stürmte, tat sie noch ordentlich weh und wenn jemand dagegen stieß, brüllte sie vor Schmerz. „Aua!“, sagte ich dann laut und erklärte dem Gegenüber, warum es mir wehtat. Manchen, vor allem meinen guten Freunden, zeigte ich vertrauensvoll die Narbe und erzählte ihnen meine Geschichte. „Wie hast du das überhaupt so lange ausgehalten?“, fragten sie immer verblüfft. „Ich weiß es nicht“, war meine einzige Antwort.
Ab und an schlägt übrigens noch jemand auf die Narbe. Dann platzt sie auf. Einmal war es besonders schlimm. Ich überforderte mich selbst, wollte immer mehr, immer schneller. Also riss die Wunde auf und blutete heftig. Ich ging lange nicht zum Arzt, obwohl ich dem versprochen hatte, natürlich gleich zu kommen. Ich hielt es wieder aus. Das war nicht gut. Die Wunde eiterte erneut. Bevor ich die Blutvergiftung bekam, ging ich allerdings zu meinem Behandler. „Es ist gut, dass Sie wieder da sind, die Wunde sieht ja böse aus“, sagte er dann. „Ja, das finde ich auch“, antwortete ich.
Wir sind jetzt also dabei, die Wunde wieder heilen zu lassen. Einmal die Woche gehe ich zum Verbandswechsel. Da sehe ich mir die Verletzung genau an und das tut ganz schön weh. Aber es ist gut, denn ich weiß, dass das zur Heilung dazugehört. Ich weiß, dass ich, wenn ich mich schone und auf mich achte, nicht mehr solche Schmerzen haben muss wie früher. Und wenn die Narbe doch einmal aufreißt und schmerzt, weiß ich, dass ich das überstehen kann, wenn ich mir nur Hilfe suche. Natürlich darf auch keiner mehr auf meine Wunde hauen. Wenn er es doch tut, dann mache ich ihm klar, wie weh mir das tut. Nie wieder werde ich stumm ertragen, was ich damals ertragen musste. Manchmal trage ich die Wunde ohne Kleidung darüber. Dann sind die Leute beeindruckt von meiner Offenheit und meiner Stärke. Das finde ich toll. Manche zeigen mir auch ihre Wunden und Narben. Wir lachen zusammen, weil wir uns immer alleine gefühlt haben, obwohl es so viele von uns gibt.
Meine Wunde ist ein Teil von mir geworden. Obwohl sie meistens nur noch eine Narbe ist, sehe ich sie beinahe jeden Tag deutlich vor meinen Augen. Sie erinnert mich daran, wie stark ich bin. Ich hasse sie nicht, auch wenn sie mich oft ausbremst und ich sie gerne mehr belasten wollen würde. Das geht nur eben nicht immer. Sie erinnert mich daran, dass ich mein eigenes Tempo habe und dass das gut so ist. Ich hasse meine Narbe nicht. Ich liebe sie. Denn sie gehört zu mir. Sie gehört zu meiner Geschichte.
Mit einem gebrochenen Bein gehst du zum Arzt. Wie ist es bei einer gebrochenen Seele?